Nasses Grab
Glas Wasser dazu?«
»Bitte. Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Milan.«
Der Kellner entfernte sich, und Larissas Chef sah über die Dächer hinüber zum Hradschin. Die Prager Burg thronte über der Kleinseite, auf der anderen Seite der Moldau, im Glanz der Morgensonne wie ein Juwel. Die hohen Türme des Sankt-Veits-Doms reckten sich in den strahlend blauen Himmel.
Dort drüben lag sie, die kleine Straße, die sein Leben für immer verändert hatte. Eine unscheinbare Gasse, unweit der Karlsbrücke. Wie hieß sie noch gleich? Er konnte sich nicht erinnern. Dabei war er oft genug dort zu Gast gewesen. Immer willkommener Besucher zu Partys und der einen oder anderen leidenschaftlichen Nacht. Damals, als die Welt noch in Ordnung war und er ein unbeschwerter junger Mann.
Wie es dort heute wohl aussehen mochte? Seit jener Nacht war er nie wieder dorthin gegangen. Dabei kehrten Verbrecher doch immer an den Ort ihrer Schandtaten zurück, wie es in Kriminalromanen hieß. Aber er war kein Verbrecher. Er hatte nur einem Freund geholfen. Das war sein Fehler gewesen. Alle weiteren Missgriffe und Verhängnisse hatten sich aus diesem einen ergeben. Als habe er damals in jener schwülen Augustnacht die Büchse der Pandora geöffnet. Eine Lüge hatte die nächste nach sich gezogen, und nun saß er hier über den Dächern von Prag und hatte das Spiel verloren. Aber das stimmte nicht ganz. Es hatte alles schon viel früher angefangen, weit vor diesem grässlichen Abend. Damals während seines Studiums, als er diese wunderschöne junge Frau kennengelernt hatte. Eine Schauspielerin, die sein Herz im Sturm erobert hatte.
Verdammt, reiß dich zusammen! Du sentimentaler Esel!
Es musste doch einen Ausweg geben, irgendwo.
Der Kellner stellte ein großes Glas Kaffee und ein noch größeres mit Wasser vor ihn auf den Tisch und verschwand so leise, wie er gekommen war. Er gab Zucker in den Kaffee, rührte um und beobachtete den Kaffeesatz, der sich langsam wieder zu setzen begann. Der Kellner hatte recht. Um einen türkischen Kaffee zu trinken, brauchte es Geduld und Zeit. Zeit. Zeit. Zeit. Denk nach!
Seit fünfundzwanzig Jahren lebte er in einem Geflecht aus Lügen. Niemand, noch nicht einmal seine Frau wusste, wer er in Wirklichkeit war. Seit dem Tag, da er im Oktober 1977 jene Tür im Aufenthaltsraum des Montrealer Flughafens geöffnet und so schnell hindurchgeschlüpft war, dass die Sicherheitskräfte nichts dagegen hatten unternehmen können, war er ein anderer. Diese Tür, auf die ihn der Oberst vor seinem Abflug in Prag aufmerksam gemacht hatte, war für ihn zur Schwelle in ein neues Leben geworden. Noch auf dem Montrealer Flughafen hatte er bei den kanadischen Behörden neben Asyl auch einen neuen Namen beantragt. Um sich besser in seiner neuen Heimat integrieren zu können, wie er glaubhaft erklärt hatte. Da keiner der Beamten in der Lage gewesen war, seinen Namen korrekt auszusprechen, hatte man ihm den Wunsch erfüllt.
Einige Male hatte er angesetzt, seiner Frau alles zu erzählen, jedenfalls was seine Herkunft betraf. Aber im letzten Moment war er immer davor zurückgeschreckt. Er hätte ihr dann auch sagen müssen, wie er wirklich hieß, wie er damals nach Montreal gelangt war und... Vielleicht hätte er ihr dann auch von jener Augustnacht erzählt, die wie ein Fluch auf ihm lastete und ihn noch immer bis in seine Träume verfolgte. Die ihn zum Komplizen eines Mörders gemacht hatte.
Den Blick über die Dächer der Stadt gerichtet, sah er vor seinem geistigen Auge wieder das verwaschene Bild jener Nacht. Er war leise die schmale Treppe in den ersten Stock hinaufgestiegen, nachdem sein bester Freund ihn spätabends völlig außer sich angerufen hatte und er von seiner Wohnung die paar Straßen hinübergefahren war, zu jenem Haus, in dem er so oft zu Gast gewesen war. Danas Haus.
» Sie ist in ihrer Wohnung. Sie braucht Hilfe, einen Arzt. Honza, fahr hin, bitte, hilf ihr. Ich muss weg. Bitte. « Sein Freund war verzweifelt gewesen. Hilf ihr . Er hatte geholfen. Selbstverständlich.
Die Tür zu Danas Wohnung war nur angelehnt gewesen. Er hatte sie im Schlafzimmer auf dem Boden gefunden. Sie war tot. So tot, wie man nur sein konnte mit einem eingeschlagenen Schädel. Das Gesicht war nicht mehr zu erkennen gewesen. Dieses wunderschöne Gesicht mit dem ironischen Lächeln. Die großen grauen Augen verschollen in einem Brei aus Knochen und Blut. Er hätte sich fast übergeben. Sie hatte das Kleid getragen, das sie sich
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