Nasses Grab
so vorstellt.« Sie kicherte. Ein mädchenhaftes, verspieltes Kichern, das die hübsche junge Frau erahnen ließ, die sie einmal gewesen war.
»Und er hatte dunkelbraune Augen. Das ist mir aufgefallen. Es ist ja ziemlich selten – braune Augen und blonde Haare. Und für einen Mann hatte er ein sehr schönes Gesicht. So ebenmäßig, fast aristokratisch, würde ich sagen.«
Anděl notierte sich den Namen und die Beschreibung. Viel war es nicht wert, aber man konnte ja nie wissen. Angenommen, der Name, den der Mann genannt hatte, war doch sein eigener gewesen, wie viele Václav Cernýs mochte es in Prag geben? Fünfzig?
»Ich muss die Urne mitnehmen«, sagte er, zog ein paar Papiere aus seiner Sakkotasche und legte sie vor ihr auf den Tisch. »Diesmal wollen wir alles korrekt machen, ja?« Er lächelte sein süßestes Schwiegersohn-Lächeln.
»Selbstverständlich, alles, wie es sich gehört«, sagte sie und lächelte ebenfalls.
Anděl zog sich Einmalhandschuhe an und nahm die Urne aus dem Glaskasten, den die alte Frau für ihn aufgesperrt hatte. Vielleicht waren ja noch Fingerabdrücke zu finden. Unwahrscheinlich zwar, nach der langen Zeit, dachte er, aber man hat schon Pferde kotzen sehen.
Nach der Staubschicht im Inneren zu urteilen, hatte in den ganzen Jahren niemand dieses Urnengrab geöffnet. Obwohl jemand kürzlich einen Blumenstrauß in die kleine Vase an der Außenwand gesteckt hatte. Die orangeroten Moosröschen waren vertrocknet, sahen aber aus, als seien sie noch nicht allzu lange da. Offenbar hatte sich doch jemand an Dana Volná erinnert.
Er dachte daran, wie er selbst mit seiner Mutter vor einigen Jahren die Urne seiner Großmutter beerdigt hatte. Auf ähnlich ungesetzliche Weise, wie es der unbekannte junge Mann mit Dana gemacht hatte. Nur dass im Falle seiner Großmutter überhaupt niemand von der Friedhofsverwaltung wusste, dass sie beerdigt worden war.
Anděl steckte die Urne, auf der Dana Volnás Name stand, in eine alte Sporttasche und verschloss den verstaubten Glaskasten. Als er an dem Pförtnerhäuschen vorbei zum Ausgang ging, kam die alte Frau herausgelaufen.
»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar«, rief sie atemlos. Er blieb stehen.
»Mir ist noch etwas eingefallen. Ich glaube, ich habe den Mann, der damals die Urne gebracht hat, neulich gesehen. Ich kann mich natürlich irren, aber er sah ihm ähnlich. Selbstverständlich ist er älter geworden, aber er sah ihm sehr ähnlich.«
»Und wo haben Sie den Mann gesehen?«, fragte Anděl. Vielleicht war es Wunschdenken, vielleicht wollte die alte Frau auf diese Art ihre Versäumnisse in der Vergangenheit wieder wettmachen. Er konnte es sich trotzdem anhören.
»Na, hier! Auf dem Friedhof. Er ging da hinüber zu der Wand«, sagte sie und deutete in die Richtung, aus der Anděl eben gekommen war.
»Sind Sie sicher?«, fragte Anděl.
Die alte Frau nickte. »So ein schönes Gesicht. Und er ging zu dem Grab hinüber und stellte Blumen in die Vase, glaube ich. Jedenfalls waren abends, als ich wegen eines anderen Grabes dort war, welche drin. Und das ist in all den Jahren nur noch ein einziges Mal passiert.« Sie nickte aufgeregt. »Vor ein paar Tagen erst – aber das war eine junge Frau, die nach dem Grab gefragt hatte.«
»Eine junge Frau?«
»Ja, sie sagte, Dana Volná sei ihre Tante gewesen, und sie wisse nicht, wo sie begraben liege.«
»Wie sah die junge Frau aus?«
»Braunes Haar, sehr hübsch, hatte eine große Tasche dabei – und einen Strauß Moosröschen.«
Interessant. Noch eine Verwandte? Magda? Die Archäologin? Oder die kleine Reporterin? Oder wer auch immer.
»Langes oder kurzes Haar?«
»Sehr kurzes Haar – es stand ihr aber sehr gut.«
Sieh an. Larissa Khek. Die Reporterin hatte der Volná also Blumen gebracht. Er schmunzelte. Für so sentimental hätte er die Kleine gar nicht gehalten. Er wandte sich wieder an die alte Frau.
»Und warum haben Sie das vorhin nicht erwähnt?«
»Ich war so aufgeregt, wissen Sie. Ich hatte doch all die Jahre Angst, dass jemand darauf kommt, dass ich damals beide Augen zugedrückt habe – und dann tauchen Sie auf und wollen alles wissen … Ach …«
»Ist schon gut. Ist ja alles schon lange her. Aber danke, dass Sie mir das noch gesagt haben.« Er lächelte sie verständnisvoll an und verabschiedete sich. Wenn die Frau ihm keinen Unsinn erzählt hatte, dann hatte sie den Mörder gesehen. Er lebte also noch – und er war in der Stadt. Ein Mörder, der seinem Opfer nach
Weitere Kostenlose Bücher