Nasses Grab
war einfach zu hübsch gewesen. Eine seiner zahlreichen Musen. Die Schubladenschriftstellerin. Nun, sein Roman, den er vor fünf Jahren begonnen hatte, war – im Gegensatz zu ihrem – fertig und auf dem Markt. Im Winter hatte er das Manuskript anonym an einen kleinen Verlag geschickt. Und vor einigen Wochen hatte er das Ergebnis seiner langen Nächte in einer Buchhandlung erstanden. Es war ein sehr hübsches Büchlein geworden. Er lächelte zufrieden. In literarischen Kreisen sorgte es bereits für Furore. Das lag sicher nicht nur an der Anonymität des Autors – der Inhalt war faszinierend genug. Zur Belohnung war er dann mit einer seiner anderen Freundinnen zu dieser grässlichen Premiere gegangen. Verdammte Idee. Als er sie in der Tür gesehen hatte, glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Nicht zu vergessen die Kleine aus der Redaktion, die ihn später im Treppenhaus fast umgerannt hatte. Die Tatsache, dass Larissa seine Nachbarin war, hatte ihn seit ihrem Einzug vor ein paar Monaten königlich amüsiert. Er hatte sich immer Mühe gegeben, ihr nicht über den Weg zu laufen. Nun fand er es allerdings eher ärgerlich. Pech auf der ganzen Linie.
Und nun also auch noch das. Warum bloß hatte er sich aus der Realität ausgeklinkt? In den letzten Tagen hatte er keine Zeitungen gelesen, noch nicht einmal die Schlagzeilen an den Kiosken. Er hatte keine Ahnung gehabt, was in der Stadt passiert war. Geborgte Unbeschwertheit in Zeiten des Chaos. Vorbei. Du armer Irrer, dachte er. Er starrte noch immer auf die Internetseite mit dem Zeitungsartikel. Sein Leben begann an allen Ecken und Enden sich aufzulösen, auseinanderzufallen.
Er las die Titelgeschichte von vor einer Woche noch einmal. » Mummy found in the Metro « by Larissa Khek . Natürlich musste ausgerechnet sie diese Geschichte ausgegraben haben. Die Feuerwehr hatte Särge in der Metro gefunden und in einem davon eine Mumie. Zur Hölle! Seine Vergangenheit, genauer gesagt, der eine große schwarze Fleck auf seiner sonst mäßig gesprenkelten weißen Weste, hatte ihn mit einem Schlag eingeholt.
Seit fünfundzwanzig Jahren saß er auf einem Pulverfass, und wie es aussah, hatte das Prager Jahrtausendhochwasser die Lunte gezündet. Wie viel Zeit blieb ihm bis zur Explosion? Er musste dringend nachdenken. In Ruhe. Übermorgen sollte er wieder im Büro sein. Er hatte keine achtundvierzig Stunden Zeit, sich zu überlegen, wie er das alles unbeschadet überleben konnte. War die Explosion noch zu verhindern? Er sah sich um. Bisher war seine kleine Wohnung ihm ein Ort der Stille und Kreativität gewesen, jetzt wirkte sie plötzlich wie ein Gefängnis auf ihn. Er packte seinen Laptop, seine Brieftasche und seinen Schlüssel und verließ die Wohnung.
Er fuhr mit der Straßenbahn zum Wenzelsplatz, stieg dort aus und machte sich auf den Weg hinunter zum Altstädter Ring. Touristen aus aller Herren Länder strömten durch die Straßen und Gassen, schwatzten fröhlich, reckten die Köpfe nach oben zu den wunderschön restaurierten Häusern und stießen ein Oh! und Ah! nach dem anderen aus. Blind für die Schönheit der mittelalterlichen Stadt schlängelte er sich zwischen den Menschen hindurch bis zu dem großen Platz, der das Zentrum der Altstadt bildete. Von der anderen Seite des Altstädter Rings mahnte ihn das Denkmal von Jan Hus, für seine Taten geradezustehen.
Er wandte den Blick ab und steuerte das Prinz an, ein Touristenlokal, dessen Tische jedes Jahr mehr Raum auf dem seitlichen Ausläufer des Platzes beanspruchten. Das Restaurant muss eine Goldgrube sein, dachte er, alle Tische waren besetzt, und am Eingang zur Terrasse wartete eine Schlange weiterer Touristen. Er ging zum Aufzug im hinteren Teil des Restaurants. Der Oberkellner, ein dickbäuchiger, jovialer Mann, nickte ihm lächelnd zu. Man kannte ihn hier. Mit dem Aufzug fuhr er hinauf auf die Dachterrasse. Er suchte sich einen Tisch mit Blick auf den Platz unter ihm und bestellte einen Latte macchiato. Dann überlegte er es sich anders. Er rief den Kellner zurück, entschuldigte sich und änderte seine Bestellung. Ob er wohl statt des Latte einen Turek , einen türkischen Kaffee, haben könne?
Der Kellner sah ihn erstaunt an, dann erwiderte er amüsiert auf englisch mit starkem böhmischen Akzent: »Oh, but certainly, sir, auf der Karte haben wir ihn ja nicht mehr. Die Touristen trinken so was nicht, wegen des Kaffeesatzes, wissen Sie. Die haben einfach keine Geduld mehr beim Kaffeetrinken. Ein
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