Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
den Wald. Und sie haben sich auf mich gestürzt, einer nach dem anderen … Und dabei haben sie mich geschlagen, bis ich mich nicht mehr wehren konnte …«
Das Mädchen begann zu weinen, legte den Kopf gegen Anastasias Schulter und schluchzte herzzerbrechend.
»Jetzt bin ich schwanger«, stammelte die Fremde schließlich. »Aber ich konnte fliehen – endlich … endlich! Vier Tage laufe ich schon durch die Taiga. Ich habe in Höhlen geschlafen, bis ich das Dorf hier fand. Mütterchen, ich bin auf die Knie gefallen und habe dankbar gebetet! Danke auch für das Brot …«
Eines muß man Anastasia lassen: Sie hatte ein mitfühlendes Herz! Und wenn sie mitfühlte, glaubte sie auch alles. Als das Mädchen weinte, war auch sie den Tränen nahe. Sie sprang auf, rannte zum Herd, schob die Suppe wieder über das Feuer, holte frisches Brot, gesalzene Butter, Speck und saftige, eingelegte Gurken. Alles, was auch Tigran so gern aß …
»So etwas!« rief sie dabei. »Diese Halunken! Diese Männer! Was heißt eine Stunde, mein armes Vögelchen! Du kannst bei mir bleiben die ganze Nacht, und morgen bringe ich dich zu unserem Popen, der wird dir weiterhelfen. Vater und Mutter erschlagen und von den Nomaden mißbraucht … mein armes, kleines Püppchen! Riechst du? Das ist eine Sauerkohlsuppe, die wird dir guttun! Zieh die nassen Kleider aus, mein Töchterchen, leg dich in mein Bett … Mein Gott im Himmel, vier Tage bei diesem Wetter in der Taiga – und so zart und zerbrechlich! Leg dich hin – leg dich hin!«
Sie holte eine große Schüssel, schöpfte die Suppe hinein und trug sie zu dem Mädchen. Die Unbekannte lächelte dankbar, stellte die Schüssel in ihren Schoß und aß heißhungrig.
Um die gleiche Zeit hatte sich Tigran Rassulowitsch durch die Hintertür in das ›Leere Haus‹ geschlichen.
»Es ist gelungen!« sagte er zu Tassburg. »Ich habe beobachtet, wie Anastasia sie ins Haus geholt hat.« Er schnaufte und rieb sich die Hände. »Eine gute Seele, diese Anastasia!«
»Ja, wirklich, eine gute Seele!«
»Mein Kompliment, Michail Sofronowitsch, Sie haben Natalia vollendet zurechtgemacht! Man wird ihr alles glauben. Wo haben Sie den Wodka?«
»Hinter Ihnen auf dem Regal.«
Der Pope drehte sich um, nahm die Flasche, entkorkte sie und setzte sie an den Mund. Den Umweg über ein Glas hielt er für Zeitverschwendung. Er leckte sich nach dem langen Schluck die Lippen und ließ die Flasche offen vor sich stehen.
»Diese Idee war genial!« sagte er. »Das Mitleid von ganz Satowka ist Natalia sicher. Da wir hier eine große Familie sind, wird sie das Töchterchen von allen werden.«
»Nicht lange! Mein Plan geht nämlich weiter.« Tassburg streckte die Beine von sich. Es war so warm, daß er sein Hemd bis zum Hosengürtel aufgeknöpft hatte. »Nomaden haben sie vergewaltigt, wird sie erzählen. Jetzt ist sie schwanger.«
»Sie böser Nomade!« unterbrach Tigran ihn fröhlich.
»Aber soll sie ein Kind von diesen Verbrechern bekommen – durch ewige Demütigungen erzwungen? Nein! Jeder, der dazu in der Lage ist, hat die Pflicht, sie nach Batkit oder sogar nach Omsk zu bringen, wo man ihr in einem guten Krankenhaus das Kind wegnehmen kann. Und ich bin in der Lage, sie wegzubringen! Mein Hubschrauber steht draußen beim Lager. Er wird in drei Tagen nach Omsk zurückfliegen. Er wird das arme, mißhandelte Geschöpf mitnehmen …«
»Die Tränen kommen mir!« Tigran starrte Tassburg an und setzte die Wodkaflasche abermals an den Mund. »O Sie raffinierter Gauner! Und wer muß mitfliegen, damit das arme Vögelchen in die richtigen Hände kommt? Sie natürlich!«
»Das nenne ich Logik, Tigran Rassulowitsch!« Tassburg lachte zufrieden. »Jeder wird das einsehen.«
»Und in Omsk heiraten Sie Natalia im Heiratspalast ganz offiziell …«
»Gewiß!«
»Und dann?«
»Komme ich mit ihr zurück, um im Frühjahr an den Chunku zu ziehen.«
»Und schleppen Frau und Kind durch die Taiga? Sie Idiot, würde Dr. Plachunin sagen!«
»Vielleicht gelingt es mir auch, in Omsk eine Stellung in der Zentrale zu bekommen. Wer weiß das vorher? Wichtig ist erst einmal, daß Natalia und ich nach Omsk kommen. Und das wird jetzt möglich!«
Was Natalia im Laufe der Nacht der braven Witwe Anastasia anvertraute, war so schrecklich, daß die Gute abwechselnd weinte und fluchte.
»Nun ist alles vorbei«, tröstete sie Natalia, die schluchzend an der Schulter der Witwe lehnte. Sie streichelte das Haar des Mädchens und kam sich wirklich
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