Natascha
und doch fordernd, ein Bild wie aus den vieltausendjährigen Tempelfriesen von Abu Simbel. Die große Arie der ›Aida‹ begann.
Als Sieger kehre ich heim. Auch meinem Mund entfloh das Wort, so ruchlos! Sei Besieger
meines Vaters, der nur für mich die Waffen
ergriff, mir neu zu geben
die Heimat, Macht und Ehren und einen Namen,
den hier ich muß verbergen –
Natascha Tschugunowa sang es plötzlich russisch. Totenstill war es in der Oper, nur ihre Stimme schwebte wie ein schluchzender Aufschrei in die Dunkelheit, und selbst die Geigen weinten, als zittere plötzlich der Bogen in den Fingern der Spieler.
Luka lehnte den dicken Kopf an die Pappsäule und schluchzte. Er begriff, was Natascha sang, warum sie russisch sang, und er wußte, daß unter den 1.500 stummen Zuhörern einige hundert andere Russen saßen und ihnen die Tränen über die Backen liefen, und sie würden jetzt an Mütterchen Rußland denken, an die Sonnenblumenfelder, an die vom Hochwasser ausgewaschenen Ufer des Don, an die Steppen und unendlichen Wälder, an die Holzhäuser und das Geläut der Troika.
… mir neu zu geben die Heimat, Macht und Ehren und einen Namen,
den hier ich muß verbergen –
Der Regisseur stand wieder neben Luka. Er sah ein wenig unglücklich aus.
»Warum singt sie russisch?« flüsterte er zu Luka, der mit dem Handrücken seine Tränen aus den Augen wischte. »Sie sollte doch italienisch singen … es war doch so geprobt …«
»Ein Idiot bist du, Freundchen!« sagte Luka laut. »Mein Täubchen singt nicht … es betet …« Recht hatte Waleri Tumanow, das dicke Schweinchen von einem Moskauer Gesanglehrer, dachte er dabei. Jetzt auf einmal begreift man's ganz. Und er biß sich auf die Lippen und fluchte innerlich, daß ihm das Wasser wieder in die Augen schoß. »Geh!« sagte er zu dem verblüfften Regisseur. »Wenn's dir nicht gefällt, kneif ich dich, daß du wie eine heiße Wölfin heulst –«
Der Regisseur schlich zurück. »Wie die Wilden sind sie«, knurrte er vor sich hin.
Die Stimme der Tschugunowa schwieg. Im Orchester war Stille, in dem weiten, dunklen Rund lag ergriffenes Schweigen. Es war nicht mehr die Arie der ›Aida‹ gewesen … sie alle hatten es gespürt: Hier hatte eine Frau gesungen, die Abschied nahm von ihrer Heimat und der das Herz fast brach, weil sie ihre Heimat mehr liebte als allen Glanz der anderen Welt.
Dann aber, nach einigen Sekunden stummen Mitleidens, brach der Beifall aus. Ein Donnern war's, wie die Hufe von tausend Pferden, die über die Steppe brausen. Rufen hörte man, russische Schreie … »Swaboda! Swaboda!« (Freiheit! Freiheit!) Eine Demonstration war's, der Teufel hol's … eine Demonstration gegen die Bolschewiki. Luka lehnte sich an die Säule und kratzte sich mit beiden Händen den Kopf. Als er an Rußland gedacht hatte, mußte er weinen, der Riese, aber jetzt war er nachdenklich und klatschte nicht mit. Wie soll's werden?, dachte er nur. In Paris sind wir, morgen in London, übermorgen in Rom … und so wird's weitergehen, bis wir alt sind und zusammenfallen und uns hinlegen und sagen: Flieg hinweg, Seelchen. Aber Mütterchen Rußland werden wir nie mehr wiedersehen. Nie mehr die Wälder von Krassnoje Mowona, die Rosenfelder von Kasanlik, und nie mehr werden wir ihn trinken, den schwarzen Wein Massandra, der auf der Zunge schmeckt wie die Feldkamille, die man in Schokolade tauchte.
Natascha Tschugunowa kam von der Bühne. Plötzlich stand sie vor Luka. Klein, zierlich, ein Püppchen, das man zerbrechen mußte, wenn man es hart anfaßte.
»Nun?« fragte sie. »Was ist, Luka?«
»Abschied hast du genommen, Täubchen?« sagte er rauh.
Sie nickte. »Du hast es verstanden? Manchmal bist du gar kein Idiot, Luka.«
Luka grinste verlegen. Wie lange ist's her? dachte er. Da gab es einmal einen Soldaten der Roten Armee, den man Luka, den Idioten, nannte. Fast berühmt war er unter diesem Namen. Sogar ein General ließ ihn sich vorführen und sagte jovial: »So also siehst du aus! Das zu verstehen, sollte man zehntausend Jahre zurückdenken!« Luka verstand es nicht, aber er war stolz, daß ihn ein General überhaupt ansprach. Dann bekam er einen Liter Wodka und wurde zur Truppe zurückgeschickt.
Wie lange war's her? Und was war alles geschehen? Zum Teufel, so ein Menschenleben ist doch wie ein Brunnen. Jeden Tag zieht man einen Eimer herauf, und immer ist was anderes drin. Mal ein Fröschchen, mal ein Zweig, mal ein Lurch oder ein fauliger Apfel. Und man trinkt das
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