Natascha
dieses Land! Ich hasse es!«
»Wir lieben es, Natascha. Es ist doch Mütterchen …«
»Nicht mehr, Luka! Nie mehr! Wir bleiben hier!« Natascha richtete sich weinend auf. »Ich habe um Asyl gebeten … gleich werden sie kommen und mich abholen, dich und mich. Wir werden in einer schöneren Welt leben –«
Durch Luka lief ein Zittern. Ein Röcheln brach aus seiner Brust, und er warf die Arme nach vorn und fiel krachend auf die Knie.
»Wir werden Mütterchen nicht wiedersehen?«
»Nie mehr, Luka –«
»Die Steppe nicht? Den Wald nicht? Die Sonnenblumen und den Kreml? Die Pferdchen und die Wölfe –?«
»Nichts mehr, Luka. – Wir haben keine Heimat mehr …«
Durch den riesigen knienden Körper lief ein wildes Zucken. Dann rutschte er auf den Knien vorwärts, die dicken Hände gefaltet, wie die Bauern in der Kirche … damals, als sie um Regen oder Sonne flehten und bis zum Popen auf den Knien rutschten … und er weinte, der Riese, er heulte laut wie ein getretener Hund, und die gefalteten Hände hob er zu Natascha und brüllte:
»Tu es nicht, Täubchen … wir können doch nicht leben ohne Mütterchen … was sind wir denn … wir werden weinen und uns das Herz zerreißen … Tu es nicht … ich bitte dich …«
Bis zu ihrem Bett kroch er und legte den Kopf auf ihren Schoß. Dort weinte er weiter, umklammerte ihren Leib und streichelte ihn, kindlich bittend und zuckend wie ein sterbender Hund.
»Wir werden es ertragen müssen, Luka«, sagte Natascha leise. »Was ist das für eine Mutter, die ihre eigenen Kinder frißt?«
Nach einer Stunde kam Luka wieder hinunter in die Halle. Doroguschin, Galjanow und Pleskow rannten ihm entgegen.
»Sie kommt?« rief Doroguschin.
»Geht nach Hause!« sagte Luka heiser.
»Genosse Luka«, sagte Galjanow, »bedenken Sie, was es bedeutet, wenn Rußland –«
»Was ist Rußland, Brüderchen?« Luka griff zu und faßte Galjanow am Kragen. Umdrehen tat er ihn und trat ihm ins Gesäß, daß er durch die Halle schoß und gegen einen Tisch fiel.
»Das ist Rußland!« brüllte er. »Ein Tritt in unser Herz!«
»Bist du verrückt?!« kreischte Doroguschin. »Er ist ein Botschaftsrat! Was ist mit Natascha?!«
»Sie bleibt in Frankreich! Ich auch!«
Es war der Augenblick, in dem der dicke Anatoli Doroguschin seufzte und sich mitten in der Halle auf den Teppich legte. Galjanow saß in einem Sessel, er blutete aus der Nase und dem Mund. Nur Pleskow stand noch unversehrt, aber er hatte sich davongemacht und lauerte aus dem Hintergrund.
Auf der Straße heulten einige Polizeiwagen. Mit zwei Offizieren und zwanzig Polizisten kam der Polizeipräfekt in das Hotel.
»Kommen Sie mit, Freundchen«, sagte Luka. Und dann versagte ihm die Stimme wieder, weinend sah er auf Doroguschin und winkte dem Besinnungslosen zu.
»Leb wohl, Brüderchen«, schluchzte er. »Und küß mir Mütterchen –«
Dann rannte er davon, denn in die Halle stürmten die Reporter, um die Sensation zu knipsen.
Zwei Stunden später wußte es die ganze Welt. Natascha Tschugunowa kehrt nicht mehr zurück nach Rußland.
Der sowjetische Botschafter protestierte.
In zwei geschlossenen Wagen brachte man Natascha und Luka aus Paris hinaus … irgendwohin, in das Seinetal, in eine abgeschiedene Villa, um die ein Kordon Polizei gezogen wurde.
Anatoli Doroguschin schrieb um diese Zeit noch einen Brief. Ein Testament war's, und mit ihm die Klage eines Menschen, der stets im Staube kroch und allen Tritten auswich, die ihn zerquetschen konnten.
Dann war auch Doroguschin kalt und wie befreit. Er nahm zwei kleine, unscheinbare Tabletten und legte sich ins Bett.
Am nächsten Morgen fand man ihn. Ganz steif war er.
Es war ein sonniger Abend. Über die Seine glitten vergoldete Blätter, und das Wasser rauschte über die Steine wie an der Wolga oder am Don oder am Jenessei.
Luka lag im Gras und Natascha saß neben ihm. Enge, lange Hosen hatte sie, mit Goldfäden durchwirkt. Wie ein Junge sah sie aus, oder wie ein zerbrechliches Püppchen, aus feinstem Porzellan, mit Goldstaub bespritzt.
»Ich werde wieder singen, du Bär«, sagte sie. »Weißt du es schon?«
»Ja, mein Täubchen«, sagte Luka und zerquetschte eine freche Mücke.
»Die ›Aida‹. In der Pariser Oper.« Natascha beugte sich über Luka und riß ihn an den wirren Haaren. »Ist es nicht schön, du Bär … Ich werde singen in einer freien, schönen Welt … und wir können hinfahren, wohin wir wollen, wir können tun, was wir wollen, ich kann singen, wo
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