Nathalie küsst
ungefähr in dem Zustand, in dem er sich an jenem Tag im April 1992 befunden hatte, als er ein Stück von Samuel Beckett in einem Vororttheater gesehen hatte.
Markus sah sich nun zum Handeln gezwungen. Er betrat Nathalies Arbeitszimmer. Ihr Kopf steckte in einer Akte (vielleicht der 114?), aber sie blickte gleich auf. Entschlossenen Schrittes bewegte er sich auf sie zu. Doch so einfach sollte es nicht sein. Als er näher kam, musste er seinen Schritt verlangsamen. Sein Herz schlug immer wilder, eine wahre Hymne der Arbeiterbewegung. Nathalie fragte sich, was nun passieren würde. Und, offen gesagt, verspürte sie eine gewisseAngst. Dabei wusste sie sehr wohl, dass Markus die Liebenswürdigkeit in Person war. Was hatte er vor? Warum bewegte er sich nicht mehr? Seine Gestalt ähnelte einem Computer, der aufgrund einer Datenüberlastung nicht mehr reagiert. In seinem Fall drehte es sich um emotionale Daten. Sie stand auf und fragte ihn:
«Markus, was ist los?»
«…»
«Geht es Ihnen nicht gut?»
Es gelang ihm, sich wieder auf den Anlass seines Erscheinens zu besinnen. Er packte sie abrupt an der Taille und küsste sie mit einem Schwung, den er sich selbst gar nicht zugetraut hatte. Ihr blieb keine Zeit, irgendetwas zu erwidern, denn er hatte sich bereits empfohlen.
52
Markus ließ den merkwürdigen Schauplatz des geraubten Kusses hinter sich. Nathalie wollte sich wieder in ihre Akte vertiefen, doch rang sie sich schließlich dazu durch, ihn suchen zu gehen. In ihr hatte sich etwas geregt, das schwierig zu beschreiben war. Im Grunde genommen war das seit drei Jahren das erste Mal gewesen, dass sie so gepackt worden war. Dass man sie nicht wie einen zerbrechlichen Gegenstand angefasst hatte. Wirklich erstaunlich, aber dieser überfallartige Akt nahezu brutaler Männlichkeit hatte sie verunsichert undzugleich betört. Sie lief durch die Gänge und erkundigte sich bei all den Angestellten, die ihren Weg kreuzten, wo Markus abgeblieben sei. Niemand wusste Bescheid. In seinem Büro war er nicht aufzufinden. Auf einmal fiel ihr ein, er könnte auf dem Dach des Hauses sein. Dort ging zu dieser Jahreszeit niemand hinauf, es war nämlich sehr kalt. Sie sagte sich, dass er da sein müsse. Eine innere Stimme sagte ihr das. Und er war da, stand in höchst entspannter Pose am Rande des Abgrunds. Er bewegte leicht die Lippen, sicherlich schöpfte er Atem. Fast sah es so aus, als würde er rauchen, nur ohne Zigarette. Nathalie ging schweigend auf ihn zu: «Ich flüchte mich auch manchmal hierher. Zum Verschnaufen», sagte sie.
Markus war von ihrem Erscheinen überrascht. Nach dem, was gerade geschehen war, hätte er nie geglaubt, dass sie sich auf die Suche nach ihm machen würde.
«Sie werden sich noch erkälten», gab er zurück. «Und ich kann Ihnen nicht mal einen Mantel anbieten.»
«Na gut, wir werden uns eben beide erkälten. Dann befinden wir uns wenigstens beide mal auf der gleichen Ebene.»
«Sie sind ja ganz schön auf Zack.»
«Nein, ich bin nicht auf Zack. Das zeigt sich ja schon daran, dass ich getan hab, was ich getan hab … aber es ist ja auch nicht so, dass ich ein Verbrechen begangen habe!»
«Das heißt, Sie haben von Gefühlen wirklich keine Ahnung. Kuss, Schluss, so was kommt durchaus einem Verbrechen gleich. Sie werden verdammt ins Königreich der verdorrten Herzen.»
«Ins Königreich der verdorrten Herzen? … Mir scheint, sonst reden Sie nie so mit mir.»
«Schon klar, dass die 114 mich dichterisch nicht so auf Touren bringt.»
Ihre Gesichter waren durch die Kälte entstellt. Eine gewisse Ungerechtigkeit trat dadurch stärker hervor. Markus lief leicht blau an, um nicht zu sagen, er wurde fahl, während Nathalie bleich wie eine an Neurasthenie leidende Prinzessin war.
«Wir sollten lieber wieder reingehen», meinte sie.
«Okay … Was machen wir jetzt?»
«Na … Jetzt lassen wir es gut sein. Es gibt nichts, was wir zu machen hätten. Ich habe mich entschuldigt. Wir brauchen doch keinen Roman draus zu machen.»
«Wieso nicht? Ich hätte nichts dagegen, diese Geschichte zu lesen.»
«Gut, es ist genug jetzt. Ich weiß nicht mal, warum ich hier überhaupt stehe und mit Ihnen rede.»
«In Ordnung, es ist genug. Aber erst nach einem gemeinsamen Essen.»
«Wie?»
«Wir gehen zusammen essen. Und danach reden wir nicht mehr davon, das versprech ich.»
«Ich kann nicht.»
«Das sind Sie mir schon schuldig … nur ein Essen.»
Manche Menschen haben ein außergewöhnliches Geschick
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