Nathalie küsst
bereits zweimal geweint.
Das erste Mal ging auf die Zeit zurück, als er noch in Schweden lebte, wo er ein Mädchen kannte, das auf den lieblichen Vornamen Brigitte hörte. Kein besonders schwedischer Name, aber na ja, der Ruhm von Brigitte Bardot kannte keine Grenzen. Brigittes Vater hatte sein Leben lang von dieser Legende geschwärmt und geträumt, insofern war ihm nichts Besseres eingefallen als seine Tochter so zu nennen. Blicken wir über das psychologische Unheil hinweg, das droht, wenn man bei der Namensgebung seiner Tochter einem erotischen Traum die Ehre erweist. Brigittes familiärer Hintergrund ist uns nicht so wichtig, oder?
Brigitte gehörte zu jener sonderbaren Kategorie von Frauen, die stets ganz klare Vorstellungen haben. Zu jedem Thema war sie imstande, eine Meinung beizutragen, die ihr der Zufall eingab. Mit ihrer Schönheit verhielt es sich genauso: Wenn sie am Morgen erwachte, stand ihr der Glanz schon ins Gesicht geschrieben. Sie war sich ihrer selbst vollkommen sicher, deshalb setzte sie sich immer in die erste Reihe und versuchte gelegentlich, die männlichen Lehrer aus dem Konzept zu bringen, indem sie mit ihrem prononcierten Charme spielte, was die geopolitischen Angelegenheiten dann in eine andere Richtung lenkte. Wenn sie einen Raum betrat, fingen die Männer gleich an, von ihr zu träumen, und die Frauen hassten sie instinktiv. Sie war Gegenstand sämtlicher erotischer Phantasien, und das ging ihr schließlich auf den Wecker.Da hatte sie einen genialen Einfall, der die erhitzten Gemüter abkühlen sollte: Sie würde mit dem unscheinbarsten aller Jungen gehen. Damit wären die Kerle abgeschreckt, und die Weiber könnten sich abregen. Der glückliche Auserkorene war Markus, der nicht begriff, wie es kam, dass der Mittelpunkt der Welt sich plötzlich für ihn interessierte. Es war, als lüden die Vereinigten Staaten Liechtenstein zum Essen ein. Sie machte ihm eine Serie von Komplimenten und erklärte, sie würde ihn oft heimlich beobachten.
«Aber wie kannst du mich überhaupt sehen? Ich sitze immer in der letzten Reihe. Und du in der ersten.»
«Meinem Nacken bleibt nichts verborgen. Mein Nacken hat Augen», sagte Brigitte.
Ihr Bündnis beruhte auf diesem Dialog.
Ein Bündnis, das viel Gerede verursachte. Unter den entgeisterten Blicken aller verließen sie am Abend gemeinsam das Schulgebäude. Markus hatte damals noch kein besonders ausgeprägtes Bild von sich selbst. Ihm war klar, dass er mit einem leicht unangenehmen Äußeren behaftet war, doch es erschien ihm nicht übernatürlich, mit einer hübschen Frau auszugehen. Seit jeher hatte es geheißen: «Frauen sind nicht so oberflächlich wie Männer; für sie zählt das Äußere nicht so. Hauptsache, man ist kultiviert und immer lustig.» Infolgedessen hatte er sich viele Dinge angeeignet und versuchte nun, seinen Esprit an den Mann zu bringen. Mit ziemlichem Erfolg, muss man sagen. Somit trat sein poröses Gesicht zurück hinter das, was man das gewisse Etwas nennen konnte.
Doch dieses Etwas verhallte zum Auftakt der sexuellen Frage. Brigitte hatte sich sicherlich zu vielerlei überwunden, doch als er eines Tages versuchte, ihre sagenhaften Brüste zu berühren, rutschte ihr die Hand aus, und sie rammte ihre Klauen in Markus’ überraschte Wange. Er wandte sich ab, um sich im Spiegel zu betrachten, und bemerkte bestürzt die rote Erscheinung auf seiner weißen Haut. Dieses Rot schrieb sich in sein Gedächtnis ein, und er sollte diese Farbe für immer mit dem Gedanken an Zurückweisung verbinden. Brigitte war bemüht, sich zu entschuldigen, und meinte, sie habe sich zu einer unüberlegten Geste hinreißen lassen, doch Markus hatte verstanden, was sie mit Worten nicht auszudrücken vermochte. Etwas Instinkthaftes, etwas Abgründiges: Sie ekelte sich vor ihm. Er sah sie an und begann zu weinen. So drückt sich jeder Körper auf seine eigene Weise aus.
Das war das erste Mal, dass er vor einer Frau weinte.
Er legte die schwedische Entsprechung des Abiturs ab und beschloss, nach Frankreich zu gehen. In ein Land, in dem die Frauen anders als Brigitte waren. Da er aus der ersten Episode seines Liebeslebens verletzt hervorgegangen war, entwickelte er Schutzmechanismen. Vielleicht sollte er eine Parallellaufbahn zur Welt der Sinne einschlagen. Er hatte Angst vor dem Leid, das man ihm antun könnte, und davor, aus triftigen Gründen nicht begehrenswert zu sein. Er war zerbrechlich und hatte keine Ahnung, wie sehr die Zerbrechlichkeit
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