Nathalie küsst
Beziehung leben würden. Die durch nichts zu erschüttern war. Dass die Addition ihrer beiden Körper den Tod neutralisieren konnte. All das ging ihr schubweise durch den Kopf, ohne dass sie sich ihrer Sache recht sicher war. Sie wusste nur, der Zeitpunkt war gekommen, und in solchen Augenblicken entscheidet immer der Körper. Er lag nun auf ihr. Sie klammerte sich fest an ihn.
Tränen rannen über ihre Schläfen. Und er küsste ihre Tränen fort.
Doch aus diesen Küssen entsprangen neue Tränen, seine diesmal.
115
Der Anfang des siebten Kapitels von
Rayuela. Himmel und Hölle,
des Buchs von Julio Cortázar,
das Nathalie am Anfang dieses Romans las
«Ich berühre deinen Mund, mit einem Finger berühre ich den Saum deines Mundes, zeichne ihn, als entstünde er aus meiner Hand, als öffnete er sich zum ersten Mal, und ich brauche nur die Augen zu schließen, um alles wegzuwischen und von vorne anzufangen, jedes Mal lasse ich den Mund entstehen, den ich begehre, den Mund, den meine Hand auswählt und indein Gesicht zeichnet, ein Mund, ausgewählt unter allen Mündern, mit souveräner Freiheit erwählt durch mich, um ihn mit meiner Hand in dein Gesicht zu zeichnen, und durch einen Zufall, den ich nicht zu begreifen versuche, ist es ein Mund, der sich mit deinem Mund deckt, welcher lächelt unter dem Mund, den meine Hand für dich zeichnet.»
116
Der Morgen dämmerte. Es war, als hätte es keine Nacht gegeben. Markus und Nathalie hatten abwechselnd gedöst und wach gelegen, so waren Traum und Wirklichkeit fließend ineinander übergegangen.
«Ich würd gern runter in den Garten gehen», sagte Nathalie.
«Jetzt?»
«Ja. Als ich klein war, hab ich das immer gemacht. Im Morgengrauen herrscht da eine eigenartige Stimmung, wirst du gleich merken.»
Sie standen schnell auf und zogen sich langsam an.[ 1 ] Entblößten und besahen sich im matten Licht. Kein Problem. Lautlos schlichen sie die Treppen hinunter, um Madeleine nicht zu wecken. Eine überflüssige Rücksichtnahme, denn diese machte eh kaum ein Auge zu, wenn Besuch da war.Aber sie wollte nicht stören. Sie wusste, wie sehr Nathalie die morgendliche Ruhe im Garten genoss (jeder hat so seine Rituale). Sobald sie aufwachte, setzte sie sich auf ihre Bank, das hatte sie schon immer getan, wenn sie hierherkam. Die beiden waren nun draußen. Nathalie hielt inne und betrachtete alles ganz genau. Die Zeit mochte vergehen, das Leben mochte aus den Fugen geraten, aber hier blieb alles beim Alten: die Sphäre des Unveränderlichen.
Sie setzten sich auf die Bank. Das wahre Wunder, das die Sinnenfreuden vollbringen, war eingetreten. Ein Märchenwunder, das der Vollkommenheit ein paar Augenblicke zu entreißen versteht. Augenblicke, die man sich schon im Moment, in dem man sie erlebt, ins Gedächtnis schreibt. Augenblicke, auf die sich die zukünftige Nostalgie gründet. «Mir geht’s gut», sagte Nathalie leise, und Markus war richtig glücklich. Sie stand auf. Er beobachtete sie, wie sie zwischen den Blumen und Bäumen umherging. Süß verträumt lief sie ein paarmal hin und her und ließ ihre Finger über alles, was sie zu fassen bekam, streichen. Sie hatte hier ein sehr inniges Verhältnis zur Natur. Dann blieb sie stehen. Gegen einen Baum gelehnt.
«Wenn ich mit meinen Cousins Verstecken gespielt habe, musste man sich mit dem Gesicht zum Baum stellen und zählen. Ganz lange zählen. Bis 117.»
«Wieso bis 117?»
«Einfach so, keine Ahnung! Wir haben diese Zahl eben ausgemacht.»
«Wollen wir Verstecken spielen?», schlug Markus vor.
Nathalie schenkte ihm ein Lächeln. Es entzückte sie, dass er mit ihr Versteck spielen wollte. Sie wandte ihr Gesicht zum Baum, schloss die Augen und begann zu zählen. Markus rannte los, auf der Suche nach einem guten Versteck. Doch vergebliche Liebesmüh: Hier war Nathalies Revier. Sie würde die besten Schlupflöcher schon kennen. In Gedanken suchte er die Winkel ab, in die sie sich wohl einst verkrochen hatte. Ein Streifzug durch Nathalies Entwicklungsphasen. Mit sieben hatte sie sich hinter diesem Baum versteckt. Mit zwölf hatte sie sich bestimmt in jenen Busch geschlagen. Als Jugendliche hatte sie von Kinderspielen nichts mehr wissen wollen und war schmollend an den Brombeersträuchern vorbeigezogen. Und im Sommer darauf, als junge Frau, hatte sie sich auf diese Bank gesetzt, in poetisch verträumter Pose, und romantische Hoffnungen im Herzen getragen. Die junge Frau hatte an mehreren Stellen Spuren hinterlassen, und
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