Nathanael
geschah.
«Halte durch, Tessa. Ich komme zu dir!»
Er schickte seine Worte auf eine mentale Reise zu ihr. Dabei durchzuckte ihn die Erinnerung wie ein Blitz. So war es ihm damals auch mit Gina ergangen. Es durfte sich nicht wiederholen, er könnte es nicht noch einmal ertragen.
Entschlossen rannte er in eine ruhigere Seitenstraße und kletterte unbeobachtet an der Hausfassade zum Dach hoch. Oben angekommen zog er seine Weste aus, in der sich die Messer und Shuriken befanden. Nur das Flammenschwert und ein Sichelmesser, das er in seinem Stiefel verstaute, begleiteten ihn.
Er versteckte die Weste hinter einem Abluftrohr und konzentrierte sich anschließend auf das Ausfahren seiner Flügel. Er hasste die schmerzhafte Prozedur, doch Tessa zuliebe würde er alles erdulden. Die Zeit erschien ihm endlos, bis ihn die Schwingen mit eleganten Schlägen in die Luft erhoben.
Je näher er seinem Ziel kam, desto intensiver spürte er Tessas Todesangst, die seinen Herzschlag zu einem Trommelwirbel steigerte. Eben noch hatte er ihren Hilferuf vernommen, doch jetzt herrschte Stille. Der Geruch von Schwefel und Feuer zog durch die Luft und offenbarte ihm, dass das Höllentor bereits geöffnet worden war.
«Verdammt, Gott, nimm sie mir nicht auch noch», murmelte er.
Als Nathanael über die Straße zum Eingang des Hinterhofs flog, schrillten die Todesschreie eines Mannes durch die Nacht. Luzifer streckte bereits seine gierigen Finger nach dessen Seele aus. Wie auf Knopfdruck verstummten die Schreie und zurück blieb eine bedrückende Stille.
Nathanael fühlte deutlich Tessas Herzschlag. Sie lebte, aber irgendetwas stimmte nicht. War er doch zu spät eingetroffen? Eine eisige Hand griff nach seinem Herzen.
Er stürmte in den Innenhof. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, blieb ihm das Herz stehen.
Leviathan zerrte Tessa auf eine Feuerspalte zu, um sie Luzifer zu übergeben. Sie schlug und trat nach ihm, aber der Gefallene lachte nur über ihre vergeblichen Befreiungsversuche und zog sie unerbittlich an den Rand.
Angst und Zorn ballten sich in Nathanael zusammen und verwandelten ihn in ein tödliches Raubtier. Mit einem Aufschrei zückte er das Flammenschwert, um sich auf Leviathan zu stürzen.
Im selben Augenblick verstellte ihm ein Dämon mit Kurzschwert den Weg. In seinen Augen spiegelte sich das Höllenfeuer.
Nathanael reagierte blitzschnell und sprang zur Seite. Die Klinge verfehlte ihn nur um Haaresbreite und traf stattdessen die Mauer. Als die Spitze mit einem splitternden Geräusch abbrach, jaulte der Dämon vor Zorn auf und verfolgte den Flug der Metallsplitter.
Nathanael nutzte dieses Überraschungsmoment, wirbelte herum und streckte seinen Widersacher mit der Wucht seines Flügelschlags nieder. Getroffen torkelte der Dämon rückwärts, stolperte und fiel in eine der Feuerspalten.
Doch Nathanael blieb keine Zeit, diesen Triumph auszukosten. Schon rannte er zu Leviathan. Er sah, wie Tessa verzweifelt mit den Fäusten auf den Gefallenen eintrommelte. Er stellte sie auf die Füße und riss sie derb am Haar. Tessa schrie vor Schmerz auf, was Nathanael nur noch rasender machte.
«Leviathan! Lass sie los», brüllte er.
Der Gefallene erwiderte seinen Befehl mit einem spöttischen Lächeln. «Nathanael!»
Er hatte es nicht zu hoffen gewagt, aber der Blick in ihren Augen verriet ihm, welch tiefe Gefühle sie auch für ihn empfand. Wärme durchströmte sein Herz und verlieh ihm Kraft.
Fieberhaft spielte er alle Varianten durch, wie er sie aus der Gewalt Leviathans befreien konnte und kam zu einem niederschmetternden Ergebnis. Gleichgültig, welchen Weg er wählte, der Gefallene war im Vorteil. Er würde nicht lange zögern und sie ins Höllenfeuer stoßen.
Leviathans Lippen kräuselten sich zu einem siegessicheren Lächeln. Er zerrte Tessa näher an den lodernden Abgrund heran. Tessa schrie in Panik auf, als die Flammen emporschlugen und eine Strähne ihres Haares versengten.
Nathanael stockte der Atem.
«Du zögerst. Genau wie damals. Deine Gefühle schwächen dich, Blutengel!», spottete Leviathan.
«In diesem Punkt irrst du gewaltig. Meine Gefühle für Tessa machen mich zu einem noch stärkeren Gegner. Du kannst nur verlieren, Gefallener!»
Erinnerungsfetzen stürmten auf Nathanael ein. Er sah Gina, die mit seinem Schwert gegen Leviathan kämpfte, das sie aus dem Koffer gestohlen hatte. Fasziniert von dieser Waffe hatte Gina es eines Tages heimlich aus dem Koffer genommen. Sie hatte beobachtet, welche Macht
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