Nathaniels Seele
sog er währenddessen die Kraft der Gebeine in sich auf, in der Hoffnung, er könnte sie in seinem Körper bevorraten und speichern für den Fall, dass man ihm die Quelle entzog.
Für den Rest des Tages geschah nichts, doch als er die Nacht draußen hereinbrechen spürte, hörte Nathaniel etwas, das ihn hochfahren ließ.
„Wir tun es“, blaffte Hazlewood mit Befehlsstimme. „Morgen Mittag, nachdem die große Sache über den Tisch ist.“
„Sir,“ wagte eine weiche Stimme zu bemerken. „Ich verstehe ihre Ungeduld genauso wie Ihren Optimismus, aber ich bin noch nicht so weit.“
„Die Tests verliefen vielversprechend. Worauf warten wir noch?“
„Ich kann noch nicht hundertprozentig abschätzen, wie Ihr Körper auf die Transfusion reagiert. Die Sache mit Ihrem Knie verlief blendend, aber das ist keine Garantie für einen reibungslosen Verlauf.“
„Blendend?“ Hazlewood lachte. „Es verlief fantastisch. Ich habe keine Schmerzen mehr. Nicht die Geringsten. Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, nach so vielen Jahren das erste Mal schmerzfrei zu sein? Und das, nachdem Sie mir nur diese winzige Menge verabreicht haben. Ich bitte Sie. Wir warten keinen Tag mehr. Morgen, oder niemals.“
„Sir, es handelt sich um eine Massivtransfusion. Sie erhalten ein gesamtes Blutvolumen innerhalb von drei Stunden. Die Nebenwirkungen können beträchtlich ausfallen. Kreislaufschock, Hämolyse, Gerinnungsstörungen. Es ist ein unerforschtes Feld, auf das wir uns begeben. Sie haben seine Blutwerte gesehen.“
„Sterbe ich dabei, war es Schicksal. Aber dass es so endet, wage ich zu bezweifeln. Ich fühle mich fantastisch. Körperlich zumindest. Ach ja, Christian, kommen Sie morgen früh bei mir vorbei. Da gibt es noch einige Unterlagen, die ihr für den großen Deal morgen brauchen werdet. Ich habe sie zu Hause liegen lassen und komme wegen des Termins bei Blossom’s nicht dazu, sie vorher hierherzubringen. Und bevor ich es vergesse: Wenn alles nach Plan verläuft, tötet ihr sie.“
„Töten?“ In Christians Stimme klang ein Entsetzen mit, dass einen winzigen Hauch Sympathie in Nathaniel aufkeimen ließ. „Sie meinen die Frau?“
„Wen sonst? Den Pudel meiner Mätresse? Ja, wir töten sie. Demnächst dürfte sie überflüssig werden. Oder nein – vielleicht habe ich doch noch Verwendung für sie. Sprecht mich morgen noch mal darauf an, wenn alles über die Bühne ist.“
„Aber …“
„Herrgott, seien Sie nicht so zimperlich. Wenn Sie es nicht tun, tue ich es. Und meine Methoden sind in jeder Hinsicht unerfreulich. Dr. Timmons, falls Sie mich heute noch für Tests brauchen, zögern Sie nicht, mich anzusprechen. Diese Angelegenheit stelle ich vor alles andere. Auch vor meinen Schlaf. Darf ich die Herren jetzt bitten?“
Die Stimmen verstummten. Nathaniel hörte Schritte, gemurmelte Flüche und das Rasen zweier nervöser, von Angst erfüllter Herzen. Er zwang sich, tief und langsam zu atmen. Morgen also. Morgen würde es sich entscheiden. Er fühlte eine seltsame Art von Zuversicht. Jene bittersüß schmeckende Euphorie vor einem Kampf, die er schon viele Male gekostet hatte.
Langsam und ruhig ging sein Atem, während er die Knochen an sich zog. Er spürte Hazlewoods Anwesenheit, noch ehe die Tür seines Gefängnisses aufgeschlossen wurde.
„Warum?“ Der Anwalt stellte sich vor ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum? Sag es mir? Warum lebe ich? Warum das alles? Wo ist der Sinn?“
„Wirkt es schon?“ Nathaniels Stimme war monoton und emotionslos. „Erkennst du schon das, was du wirklich bist?“
„Warum leben wir? Sag mir irgendetwas, das mir hilft, und ich sorge dafür, dass du hier raus kommst.“
„Ich bin sicher, dass du dein Wort hältst.“ Nathaniel lachte spöttisch. „Aber ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann.“
„Was meinst du damit?“
„Alles, was einatmet, muss auch wieder ausatmen. Alles entsteht, entwickelt sich und stirbt. Was aufsteigt, muss wieder absteigen. Was voll war, muss wieder leer werden. Das Leben hat seinen Rhythmus, in den wir uns einfügen sollten. Es ist der große Kreislauf aus Geburt und Tod. Ein Kreis in einem Kreis.“
„Ein Kreis in einem Kreis? Und was ist die Quintessenz des Ganzen? Sag mir irgendetwas, das hilft.“
„Du fühlst dich elend, weil du deinen Platz und deine Aufgabe nicht kennst. Aber im Leben hat alles seinen Platz und seine Aufgabe. Kommen wir vom Weg ab, müssen wir ihn noch einmal gehen. So lange, bis wir endlich
Weitere Kostenlose Bücher