Nathaniels Seele
zerstören. Insgesamt kaum zehn. Lange genug? Oder viel zu kurz?
„Tu es“, wehte eine Stimme durch seinen Geist. „Tu es jetzt.“
„Absá.“ Nathaniel stieß dieses Wort unbewusst aus und ließ Christian herumfahren.
„Benimm dich, verstanden?“, zischte der blonde Mann. „Ich bin in ein paar Sekunden wieder hier.“
Er drehte sich um und wollte die Tür öffnen, doch ehe seine Hand den Griff packen konnte, hatte Nathaniel ihm bereits das Genick gebrochen. Der zweite Mann riss seine Waffe hoch, doch auch sein Kopf wurde blitzartig und mit einem mühelosen Ruck nach hinten gedreht. Ohne den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, öffnete Nathaniel die Wagentür, huschte hinaus und rannte zum Tor. Er musste es schaffen. Er musste. Seine Instinkte arbeiteten rasch und fehlerlos. Ohne jegliche Anstrengung überwand er das Tor, spürte kaum, dass eine der schmiedeeisernen Ranken seine Hose und die Haut darunter aufriss, ließ sich fallen und landete federnd auf dem Rasen. Er rannte weiter, hinüber zum Haus, während jede Sekunde zäh an ihm vorüberfloss. Er stieß sich vom Boden ab, packte einen der Efeustämme und zog sich hoch.
Wie viele Sekunden waren vergangen? Fünf? Sechs?
Instinktiv fanden seine Finger Halt in Nischen und Spalten, trugen ihn höher und höher, bis er sich über das Geländer des Balkons schwang und nach dem Gitter griff, dass das Fenster versperrte.
Die Macht des Totems vibrierte voller Ungeduld. Kaum öffnete er die Fesseln, die sie gefangen hielten, strömte sie heiß und gierig hervor. Das Eisen zerbröckelte unter seinen Fingern und wurde so heiß, dass seine Haut Blasen warf. Schmerz, zuckend durch sämtliche Nervenbahnen, flutete seinen Körper mit Adrenalin.
Acht Sekunden. Neun.
Wütend riss er eine Eisenstange ab, holte aus und zerschlug das Fenster. Scherben knirschten unter seinen Schritten, als er in das Innere des Raumes huschte. Kein Geruch nach Tod. Kein Aroma nach frisch vergossenem Blut. Er war rechtzeitig gekommen.
„Nat?“ Josephine starrte ihn an, unfähig, seine Erscheinung für real zu halten. Ausgezehrt war ihr Gesicht, blass und müde. Ihr rechter Daumen war nur noch ein mit Binden umwickelter Stumpf. „Bist du es? Bist du hier?“
Er legte einen Finger auf seine Lippen und nickte ihr zu, lächelnd, obwohl angesichts ihrer Verstümmelung ein Hass in ihm aufloderte, der kaum zu kontrollieren war. Ein Funkeln huschte durch ihre Augen, kündete vom Ausmaß ihrer Erleichterung. Keine Sekunde später stürmten zwei bewaffnete Männer in das Zimmer. Nathaniel griff nach dem nächstbesten harten Gegenstand, den er fand, um ihn auf den ersten der Eindringlinge zu schleudern. Eine ägyptische Statue. Anubis’ Schnauze durchschlug mit voller Wucht die Stirn des Mannes, tötete ihn und warf seinen Körper zu Boden. Der Schuss des zweiten Mannes ging fehl und traf den Sessel neben dem Fenster. Blitzschnell war Nathaniel bei ihm, trat ihm die Waffe aus der Hand und betäubte ihn mit einem schnellen Handkantenschlag in den Nacken.
„Kannst du damit umgehen?“ Nathaniel war mit drei raumgreifenden Schritten bei Josephine und hielt ihr die Waffe entgegen. Zitternd blickte sie darauf und nickte. Ihre Augen schwammen in Tränen, doch als sie nach dem Revolver griff, legte sich ein harter, kalter Zug um ihre Lippen. Er wusste, dass sie bereit war, für ihre Freiheit alles zu tun.
„Zögere nicht zu schießen, wenn jemand reinkommt“, beschwor er sie. „Versprich mir das.“
„Ich verspreche es.“
„Gut. Wenn er aufwacht, dann ziele auf ihn und halte ihn ruhig. Ich kann sein Gedächtnis erst löschen, wenn er wach ist. Will er dir nicht gehorchen, erschieße ihn zur Not. Ich komm so schnell zurück, wie ich kann. Und dann kümmere ich mich darum.“
Er deutete auf ihren Fingerstumpf, gab ihr einen schnellen Kuss und huschte hinaus. Während er die Umgebung sondierte, summte die Stille in seinen Ohren. Helle Erdfarben und weiche Teppiche hüllten das Haus in trügerische Freundlichkeit. Eine Lanze hing an einer Wand, umwickelt mit Otterfell und geschmückt mit heiligen Federn. Nathaniel erlaubte sich einen Moment des Innehaltens und fragte sich, welchem Krieger sie einst gehört hatte, in welche Kämpfe sie ihn begleitet und durch welch blutige Zeiten sie ihn getragen hatte. Er sprach zu diesem unbekannten Mann, als er die Lanze nahm und ihr Gewicht in seinen Händen spürte, darauf hoffend, dass der Krieger im Land jenseits des Sonnenuntergangs seinen Dank
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