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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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er nur? Es musste bereits eine Stunde verstrichen sein. Mindestens. Der Mann, den Nathaniel bewusstlos geschlagen hatte, befand sich nach wie vor im Delirium. Hin und wieder schnaufte und zuckte er, als stünde das Aufwachen unmittelbar bevor, doch jedes Mal, wenn sie mit der Waffe auf ihn zielte, verfiel er wieder in Reglosigkeit.
    Vielleicht war etwas schief gelaufen. Vielleicht brauchte Nathaniel ihre Hilfe. Josephine lauschte. Die Stille war so tief, wie Stille nur sein konnte. Vorsichtig ging sie auf die Tür zu, die Waffe vor sich haltend. Sie öffnete sie, lugte in den Gang hinaus, zuerst nach rechts, wo er nach etwa drei Metern in einer Wand endete, dann nach links. Nichts. Nur eine reglose Wache, tot oder bewusstlos, die schlaff wie ein Sack an der blutbespritzten Wand lehnte. Wieder verharrte sie einige Momente still lauschend. Dies wäre ein perfekter Zeitpunkt gewesen, verdächtige Geräusche zu hören. Schreie, Kampfgeräusche, irgendwelche Hinweise, wohin sie sich wenden musste. Doch es blieb still.
    Langsam pirschte sie sich voran. Alles war besser, als nichts zu tun, denn das hatte sie zu viele Tage und Nächte lang ertragenmüssen. Eingesperrt, hilflos, dem Wissen ausgeliefert, dass sie nichts wusste. Jetzt, da Nathaniel in ihrer Nähe war, durchströmte sie Kraft. Und eine Hoffnung, die sie nicht wieder verlieren wollte. Den Drang unterdrückend, seinen Namen zu rufen, aus vollem Hals und mit aller Verzweiflung, schlich sie weiter. Zu ihrem Leidwesen war das Haus verteufelt groß. Sie sah eine breite, mit Teppich ausgelegte Treppe, die nach unten führte – und eine ebensolche in ein höheres Stockwerk. Eine zweite bewusstlose Wache lag vor einer Phönixpalme.
    Wo sollte sie nach ihm suchen? Hörte sie da nicht Stimmen? Fern und leise, aber – sie lauschte konzentriert – ja, es schienen Stimmen zu sein. Josephine versuchte, herauszufinden, ob sie von oben oder unten kamen.
    Sie tat es so konzentriert, dass sie den Schatten hinter sich erst bemerkte, als es zu spät war. Ein Fußtritt schlug ihr die Waffe aus der Hand, so plötzlich und brutal, dass sie unwillkürlich aufschrie. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihr Handgelenk. Der Mann, den sie als Greg kennengelernt hatte, packte ihren Arm, drehte ihn auf den Rücken und zog ihn zugleich hoch, sodass Josephine glaubte, er würde jeden Augenblick ausgekugelt werden.
    „Still!“ herrschte er sie an. „Ich soll dich zu deinem Freund bringen.“
    Sie hatten ihn erwischt. Josephine würde übel vor Verzweiflung. Ungeachtet der Schmerzen wehrte sie sich gegen den Griff wand sich und keuchte vor Wut, bis Greg ihr eine Ohrfeige verpasste. Josephine gab ihm nicht die Befriedigung, sich zu fürchten. Kampflustig funkelte sie ihn an.
    „Du kannst es dir aussuchen“, knurrte er. „Entweder ich erschieße dich hier an Ort und Stelle und rufe die Putzfrau oder ich bringe dich zu deinem Freund.“
    Josephine gab sich geschlagen. Grob packte Greg ihren Arm, zerrte sie die Treppe hinauf und stieß sie einen Flur entlang. Ein merkwürdiger chemischer Geruch stieg in ihre Nase, den zu zuerst nicht zuordnen konnte. Doch dann klärte sich ihre Erinnerung. Es war Desinfektionsmittel. Krankenhausgeruch.
    „Rein in die gute Stube.“ Greg packte sowohl ihren linken als auch ihren rechten Arm, drückte so fest zu, dass sie aufkeuchte, und schob sie in ein Zimmer hinein. Josephine sah sich einer seltsamen Szenerie gegenüber. Es musste sich ursprünglich um ein klassisches Gästezimmer gehandelt haben, mit alten Teakholzmöbeln, Seidentapeten und im Laufe der Jahrzehnte zusammengesammelten Ramsch. Doch eine Hälfte dieses Zimmers sah aus, als hätte man es in ein modernes Labor verwandelt. Josephine sah zwei Liegen aus weißem Leder, umgeben von medizinischen Apparaturen. Auf einer der Liegen befand sich Hazlewood, totenblass, angeschlossen an mehrere Geräte. Auf der anderen – Josephines Herz setzte zwei Schläge aus – lag Nathaniel. Mit mehreren Riemen gefesselt, war er so gut wie bewegungsunfähig. Seine Augen unter den halb geschlossenen Lidern schienen nichts mehr zu fixieren. In seinem linken Arm steckte ein Zugang. Josephine sah Blut durch einen Schlauch fließen, hinüber zu Hazlewood, in dessen Gesicht kaum merklich die Farbe zurückkehrte. Farbe, die Nathaniels Haut verlor.
    „Es wird nicht funktionieren“, hörte sie sich sagen. „Es kann nicht funktionieren.“
    Der grauhaarige Mann, der die Transfusion überwachte, antwortete mit einem

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