Nathaniels Seele
nicht willens, aufzugeben, beseelte er noch immer seine vernichtete Hülle. Nathaniel durchtrennte hastig das Seil, ließ die Katze zu Boden gleiten und kniete sich über sie. Behutsam entfernte er mithilfe der spitzen Steinklinge das Metall aus ihrem Körper. Schließlich legte er eine Hand auf den Hals des Tieres, die andere auf die Flanke. Heiß strömte die Kraft aus ihm, legte sich über totes Fleisch, sickerte hinein und belebte es neu. Blut füllte wieder die Adern, zerstörte Fasern wuchsen zusammen. Alles war Energie, allgegenwärtig und Leben spendend. Starb ein Körper, wurde seine Kraft dem großen Ganzen zugefügt, um etwas Neues zu erschaffen. Diesmal aber entzog Nathaniel der Einheit die Kraft, die mit dem Blut desTieres in die Erde gesickert war. Lungen füllten sich unter seinen Händen mit Atem, Muskeln begannen zu zucken und Wärme kehrte zurück. Schließlich, als er erschöpft zurücksank, hob sich der Kopf des Luchses. Große, gelbe Augen blickten ihn an. Verstand das Tier, was ihm widerfahren war? Würde es sich daran erinnern? Bleischwere Dunkelheit übermannte ihn und zwang seinen Körper, sich an Ort und Stelle zusammenzurollen. Binnen weniger Atemzüge schlief er ein, das Bild der Katze mit sich nehmend, wie sie neben ihm saß und sich das Blut vom Fell leckte.
Als Nathaniel am frühen Morgen aus dem Wald zurückkehrte, war sein Körper schweißgebadet. Seine Sinne kehrten nur langsam in die Normalität zurück, während er im Wohnzimmer stand und die Stille in sich aufsog. Chinook lag schnarchend auf seiner Decke neben dem Sofa, wo er so fest schlief, dass nicht einmal der Geruch von Angst ihn weckte.
Eine Zeit des Friedens lag hinter Nathaniel, doch nun wurde diese zerbrechliche Harmonie erneut zerstört. So war es immer. Ein ewiges Auf und Ab. Nach Jahren der Ruhe zehrte das neu erwachte Ungleichgewicht an seiner Seele, entriss ihr den kostbaren Frieden und würde dafür sorgen, dass der Kampf erneut begann. Was würde es diesmal sein, das das Gefüge störte? Ein Teil in ihm lechzte nach dem Kampf, so wie der Krieger in ruhigen Zeiten danach strebte, sich zu beweisen. Seine Leidenschaft verlangte nach Rache, nach dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren, wenn er Feinden nachstellte und ihrer Spur folgte, nach dem Triumph des Siegens und dem bittersüßen Geschmack verhallender Euphorie.
Nathaniel hasste es, keine Wahl zu haben. Es gab nichts, das ihn mehr anwiderte als Zwänge, die ihm aufgebürdet wurden. Freiheit war das kostbarste Gut, aber wann war er das letzte Mal frei gewesen? Wohl in den Tagen seiner Kindheit und Jugend, denn wenn er sich daran erinnerte, erinnerte er sich an Freiheit in ihrer reinsten Form. An ewige Sommer, unendliche Weiten und den Rauch von Lagerfeuern, der sich träge dem Abendhimmel entgegenwand. Eine Zeit lang war alles vollkommen gewesen. Aber dann waren die Schatten gekommen. Zuerst jene Menschen, die ihnen ihr Dasein gestohlen hatten. Dann die alte Schamanin, die ihm ein neues Leben geschenkt hatte. Und einen Fluch, der ihn zwang, ihrem Willen zu gehorchen.
Angewidert vom Geruch trocknenden Schweißes verschwand Nathaniel im Bad, um diesmal das heiße Wasser der Dusche aufzudrehen. Bis zum Anschlag, sodass ein gewöhnlicher Mensch die Hitze niemals ertragen hätte. Nach Nächten wie dieser war sein Körper kalt wie Eis. Alle Wärme und Energie war ihm entzogen worden, draußen in den Tiefen des Waldes. Eine Müdigkeit von solchem Ausmaß erfüllte ihn, dass er das Gefühl hatte, Jahrtausende schlafen zu müssen. Das kurze Ruhen nach Erfüllung seiner Aufgabe war alles andere als ausreichend gewesen. Er war sogar zu müde, um zu denken. Immer wieder nickte er unter dem kochend heißen Wasserstrahl ein, bis der Gestank der Menschen im Ausguss verschwunden war und die Hitze zumindest ansatzweise seine verlorene Energie aufgefüllt hatte. Was Nathaniel nun noch brauchte, war eine Unmenge an Nahrung. Am besten Schokolade. Und Schlaf. Viel Schlaf. Letzteres, so schwante ihm, würde er diesmal allerdings nicht bekommen.
Die Schamanin bestand darauf, dass er dem Angebot der Frau folgte, für sie arbeitete und in ihrer Nähe war. Warum? Wozu sollte das gut sein? Niemandem hatte er sich je beugen müssen, außer ihr und jenem Mann, dessen Gestalt in seinem Geist gestochen scharf aus einem Meer undeutlicher Schatten herausragte. George Jeremiah Sheridan. Die Melodie dieses Namens würde ewig in seinem Kopf herumspuken. Aber der General war lange tot. Die
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