"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Kanzlerin Angela Merkel forderte im April 2007 »restlose Aufklärung« des Buback-Mordes. Doch bald darauf weigerte sich Wolfgang Schäuble, damals Bundes innenminister, die gesperrten Aussagen von Verena Becker beim Verfassungsschutz freizugeben. Dies sei »zum Wohle der Bundesrepublik« nötig. Es ist kaum zu glauben, aber der Schutz einer Verfassungsschutzquelle war Schäuble wichtiger als die Aufklärung des Mordes an dem höchsten Strafverfolger der Republik.
Dabei ist das Schicksal dieser Aussagen von Verena Becker ein Skandal für sich. Bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe waren die vom Verfassungsschutz überlassenen Kopien der Akten angeblich spurlos verschwunden; wahrscheinlich hat sie Generalbundesanwalt Kurt Rebmann vernichten lassen. Im Rahmen der neuen Ermittlungen gegen Wisniewski und Becker konnte ein Bundsanwalt sie zwar beim Verfassungsschutz in Köln lesen. Vor Gericht können sie aber höchstens teilweise verwendet werden.
Die Aussagen von Verena Becker sind nicht die einzigen RAF-Akten, die noch gesperrt sind. Auch ein Teil der Vernehmungsprotokolle des RAF-Mannes der ersten Generation Gerhard Müller ist nach über dreißig Jahren noch geheim; wahrscheinlich der Teil, in dem er den ersten Polizistenmord der RAF gesteht, für den er nie angeklagt wurde.
Verena Becker mit Schussverletzung bei ihrer Verhaftung in Singen, Mai 1977.
Gesperrte Dokumente, verschwundene Akten, schweigende Zeugen: Die Bilanz der Aufarbeitung der RAF-Geschichte vierzig Jahre nach den ersten Schüssen in Berlin fällt dürftig aus. Die von den Gerichten festgestellte »forensische Wahrheit« basiert vielfach auf zweifelhaften Zeu-genaussagen und spärlichen Indizien. Die Bundesanwälte wollten anklagen, und die Richter wollten zu Urteilen kommen. Sie wollten die Terroristen aus dem Verkehr ziehen und dabei waren ihnen oft pragmatische Erwägungen und die »Prozessökonomie« wichtiger als die Wahrheitsfindung. Generalbundesanwältin Monika Harms gab sich gleichwohl damit zufrieden. »Die historische Wahrheit«, sagte sie, »interessiert Historiker.«
Nun, sie interessiert auch die überlebenden RAF-Opfer sowie die Angehörigen und Freunde der RAF-Opfer. Doch können sie sich Hoffnungen machen, dass ihre Fragen jemals beantwortet werden? Wohl die einzige Chance, ehemalige Mitglieder der RAF zum Sprechen zu bekommen, wäre ein Deal: Wahrheit gegen Freiheit. Aussagen gegen Amnestie. Die ehemaligen Terroristen, aber auch Polizisten und Politiker, bekämen Straffreiheit zugesichert und würden dafür ihr Wissen preisgeben. Historiker würden mit den Berichten die vielen Lücken in der Geschichte der RAF füllen können. Ein »Forum der Aufklärung« hat Carolin Emcke, Patenkind von Alfred Herrhausen, eine solche Kommission genannt. Die schweigenden Täter würden eingeladen, »aus dem Schatten ihrer Taten zu treten und sie preiszugeben, sie denen zu geben, denen sie auch gehören. Den Opfern.« 12
Eine verlockende Vorstellung, doch einem solchen Deal stünde das Legalitätsprinzip entgegen. Es verpflichtet die Strafverfolger, so legt es die Strafprozessordnung fest, »wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen«. Und es existiert keine politische Kraft, die es wagen würde, Straffreiheit für ehemalige Terroristen zu fordern. Beim Thema RAF dominiert in der Öffentlichkeit noch immer das Moralisieren. Gegen die Idee eines solchen »Wahrheitstribunals« würden die Journalisten aus dem Hause Springer - die alten Reflexe funktionieren noch - sofort eine gnadenlose Kampagne starten.
Peter-Jürgen Boock, der das Reden und Schreiben über die RAF zu seiner Profession gemacht hat, greift das Schweigen seiner einstigen Genossen immer wieder scharf an. Genau das habe doch die Kriegsgeneration getan, die Eltern, die keine Antworten gegeben hätten auf die Fragen, ob sie nichts gewusst hätten von der Ermordung der Juden, warum sie keinen Widerstand geleistet hätten. »Ich habe immer gedacht, wir würden anders mit unserer Geschichte umgehen«, sagte Boock. »Aber das ist nicht so. Wir sind die Kinder unserer Eltern!«
Christian Klar wurde mit dieser Parallele von Bundespräsident Horst Köhler konfrontiert, als dieser im Mai 2007 den Ex-Terroristen traf, um sich eine Meinung über eine mögliche Begnadigung zu bilden. »Ich habe diesem Vergleich widersprochen«, schilderte Klar das Gespräch, »und ihm erklärt, dass ich nicht einverstanden bin, die
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