Nauraka - Volk der Tiefe
beide dieselbe Einsamkeit. Es gab sonst niemanden, der so war wie sie, und das bildete eine Brücke zwischen ihren Welten. Was Lurdèa besonders an Berenvil gefiel, war, dass er trotz seines Selbstbewusstseins manchmal ihr gegenüber unsicher war, wie er sich verhalten sollte. Das zeigte, dass er nicht sonderlich viel Erfahrung mit Frauen hatte, zumindest war er an keine feste Bindung gewöhnt, sie aber als gleichwertig respektierte.
»Ich hatte nie eine Familie«, sagte er eines Abends am Fuße des Domgar in einem lärmenden Gasthaus; jemand feierte gerade Geburtstag, und alle wurden freigehalten. Trotzdem blieben die beiden unter sich, und darüber war Lurdèa froh – immerhin war das Ziel der Reise nun greifbar nahe und damit eine Entscheidung zu fällen.
»Vielleicht«, fuhr Berenvil fort, »hänge ich deswegen so sehr an dir. Mir ist noch nie jemand wie du begegnet. Ich möchte immer für dich da sein, Luri.« Wenn sie sich derart vertraulich unterhielten, benutzte er gern die Koseform, auch wenn er immer öfter ihren neuen Namen aussprach, selbst wenn sie nur zu zweit waren.
»Kühne Worte«, meinte sie leichthin, um ihm nicht zu zeigen, wie aufgewühlt sie bereits war. »Wie kannst du das wissen?«
»Ich fühle es eben. Es ist wie ein Zwang, ich will immer nur in deiner Nähe sein. Tut mir leid, wenn ich dich damit brüskiere, aber … wir haben Domgar erreicht, und es gibt da ein paar Dinge, über die wir reden müssen. Vorher.« Er spielte mit dem Krug in seinen Händen und mied ihren Blick.
Sie war nicht überrascht. Beiden war klar gewesen, dass dieser Augenblick kommen musste, auch wenn sie ihn vor sich hergeschoben hatten. Sie waren Freunde … aber eben auch mehr. Lurdèa schätzte es inzwischen, wenn Berenvil ihre Hand in seine nahm, wenn er manchmal eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich, und die Art, wie er sie ansah. Sie war immer noch zu scheu, um größere Nähe zuzulassen, doch das lag an ihrer verletzten Seele, nicht an ihrem Körper. Der sehnte sich längst nach zwei kräftigen Armen, die ihn festhielten und wärmten. War das Liebe? Nein, so weit wollte sie nicht gehen. Aber zumindest war es aufrichtige Zuneigung und das Verlangen nach körperlicher Zärtlichkeit.
Ja, sie mussten an dieser Stelle beide eine Entscheidung treffen.
»Du hast recht«, sagte sie.
»Eine Frage beschäftigt mich schon seit langem«, fuhr Berenvil zögerlich fort. »Damals, als du mich vor dem Ertrinken bewahrt hast … ich war bewusstlos, aber als ich zu mir kam, hatte ich eine seltsame Erinnerung. Ein Gefühl . Deinen … Mund auf meinem.«
Lurdèa nickte lächelnd und ein wenig verlegen. Daran erinnerte sie sich auch noch, und jedes Mal mit einem seltsamen Kribbeln. »Ich habe dir etwas von meinem Atem gegeben.«
Er fuhr sich durch die dunklen Locken, und ein seltsamer Ausdruck lag in seinen unergründlichen Augen. »Wie konntest du dich dazu überwinden?«
»Ich habe nicht nachgedacht. Das scheint meine hervorstechendste Eigenschaft zu sein.«
»Und danach? Als du wieder nachgedacht hast?« Seine Finger tasteten vorsichtig nach ihrer Hand.
Sie errötete leicht. »Ich wollte es nicht missen«, gestand sie.
Berenvil atmete tief ein. »Also dann«, gab er sich einen Ruck, ergriff Lurdèas Hände, legte sie zwischen seine und sah sie fest an. »Ich lebe allein dort oben auf dem Berg, Lurdèa von den Nauraka. Es ist kalt und zugig, aber ich habe die Burg so gebaut, dass die Wärme der Kamine gut in Inneren gehalten wird. Es gibt viele Teppiche und Bequemlichkeiten, vor allem weiche Betten, auch für Gäste ... obwohl ich noch nie welche hatte, glaube ich. Nicht jeder schätzt die Unwirtlichkeit und den beschwerlichen Weg hinauf. Ich aber lebe dort oben, weil ich jeden Tag eine atemberaubende Aussicht habe, und weil mir niemand dieses kleine Reich streitig macht. Ich kann tun und lassen, was ich will. In meiner Schatzkammer lagere ich einen bescheidenen Reichtum, der für Dienstboten und sogar eine Soldatentruppe reicht. Das Dorf unten am Fuß des Berges versorgt mich mit allem, was ich brauche. Der Berg gehört mir zwar nicht, aber dieses Dorf und ein bisschen Land. Meine Burg heißt Dorluvan, Eislicht, wie mein Reich.
Und jetzt offenbare ich dir endlich, aus welchem Grund ich den Berg verlassen habe und mich von diesem adligen Mistkerl übertölpeln ließ. Ich war nämlich auf der Suche nach einer Frau.«
Beinahe hätte sie gelacht, aber sie riss sich zusammen. Berenvil wirkte so ernst und
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