Nauraka - Volk der Tiefe
einsamen Gehöfte waren verblieben. So waren Fangur und alle anderen aufgewachsen und hatten bis zu der Begegnung mit Erenwin nie darüber nachgedacht, ob es nicht auch anders sein könnte.
»Kein Wunder, dass es Traurige Festung heißt«, bemerkte Erenwin. »Die Steine müssen ja weinen über ihre eigene Scheußlichkeit.«
»Warte ab, bis du ins Innere kommst«, entgegnete Fangur und sollte recht behalten.
»Das ist ja noch scheußlicher«, stellte der Nauraka angesichts der völlig überladenen Einrichtung angeekelt fest. »An Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten.«
»Aber dafür protzig, und ich wette, man könnte durch den Verkauf eine Menge Geld erhalten, das man anderweitig verwenden kann.«
Doch darauf wollten sie jetzt nicht achten. Morangar erwartete sie bereits, und der gesamte Hofstaat tummelte sich ebenfalls in der riesigen, mit Gold und Edelsteinen überladenen Halle.
Fangur hatte seine zwanzig Mitverschwörer im Gefolge, das war nicht unüblich, denn sie mussten schließlich die schweren Steuertruhen hereinschleppen.
Morangars Leibgarde stand wie gewohnt an den Seiten, nur eine Wache am Haupteingang. Mehr als die fünf brauchte es nicht – von wem sollte dem Fürsten hier auch Gefahr drohen? Keiner der Hofschranzen durfte Waffen tragen, falls überhaupt einer in der Lage war, ein Messer richtig herum zu halten, und für eventuelle Giftmischer waren die Vorkoster zuständig.
Der Fürst saß auf seinem Thron, ein fetter Mann mit schlaffen Muskeln und von Ausschweifungen gezeichnetem Gesicht, der seine Festung schon seit Jahren nicht mehr verlassen hatte.
Fangur fragte sich plötzlich, wie er zehn Jahre damit hatte leben können. Wirklich nur seiner Familie wegen? Es konnte nicht anders sein. Anfangs hatte er sich vielleicht noch geekelt, aber dann einfach weggesehen und genommen, was er bekam, und das Beste daraus gemacht. Wie so viele.
Es geschah, bevor auch nur ein einziges Wort gefallen war. Morangar kam lediglich dazu, den Mund zu öffnen, aber nur, um seinen letzten Atemhauch statt einer Silbe auszustoßen.
Erenwin bewegte sich so schnell, dass Fangur kaum mit den Augen folgen konnte, obwohl er höchst konzentriert und auf alles gefasst war. Er sah gerade noch aus dem Augenwinkel einen schwarzen Schemen, der eine seltsam schlierige Nebelbahn durch den Saal zog.
Ein Herzschlag.
Eine Gestalt formte sich aus dem Nebel, direkt hinter dem Fürsten.
Der zweite Herzschlag.
Fangur sah es, doch es geschah zu schnell, um es wirklich zu begreifen. Die erhobenen Arme, die Hände wie Klauen verkrümmt, fuhren auf den Fürsten herab.
Der dritte Herzschlag.
Alles verschwamm vor Fangurs Augen, und das Nächste, was er klar sah, war Morangars grotesk verdrehter Kopf, und sein feister Körper, der auf dem Thron zusammensackte.
Der vierte Herzschlag.
Fangur atmete gerade aus. Und hastig wieder ein.
Der fünfte Herzschlag.
Erenwin drehte den Kopf des Fürsten zurück, dessen Kinn auf die Brust sank. Er sah Fangur an.
»Jetzt!«, rief Fangur und hoffte, dass seine Leute schneller waren als alle anderen.
Sie waren es, denn genau wie er waren sie darauf vorbereitet gewesen und hatten alles genau beobachtet. Sie hatten gewusst, was geschehen würde. In rasender Geschwindigkeit ― Fangur erschien es jedoch nach Erenwins unglaublich schnellen Bewegungen furchtbar langsam ― verteilten sie sich im Saal, entwaffneten die fünf Gardisten und richteten die Waffen auf die Hofschranzen. Koldar verschloss das Portal und postierte sich davor. Erenwin stand in dem Moment bereits wieder neben Fangur.
Der zwanzigste Herzschlag.
»Niemand rührt sich!«, rief Fangur, während die Hofschranzen erst die Trägheit abschüttelten, sich staunend umsahen und immer noch nicht begriffen. Sie hatten überhaupt nichts mitbekommen; alles, was sie jetzt sahen, waren Speere und Schwerter, die sie plötzlich bedrohten, ohne dass sie den Grund dafür erkennen konnten.
Der fünfzigste Herzschlag.
»Unser Fürst Morangar ist soeben einem bedauerlichen Herzanfall erlegen«, fuhr der Hauptmann fort und wies auf den Thron. Es sah so aus, als wäre der Herrscher eingeschlafen, wäre da nicht die wächserne, sich allmählich ins Grau wandelnde Hautfarbe gewesen. »Ich rufe hiermit die vorgeschriebene dreitägige allgemeine Staatstrauer aus. Das Protokoll sieht vor, dass alle Angehörigen des Hofes sich auf ihre Zimmer begeben müssen, um dort den Tod unseres geliebten Fürsten angemessen zu beweinen. Ich werde
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