Nauraka - Volk der Tiefe
wollten es wahr werden lassen. Ein Barde erzählte ihr von der wahrhaft stattgefundenen, zweihundert Jahre dauernden Reise der Prinzessin Alasanferantu, die von ihrem Vater verstoßen wurde und ihr Volk aufgegeben hatte, um nach ihrem nicht standesgemäßen Geliebten zu suchen, und ihn schließlich als Visionenritter wiederfand. Aus dieser Verbindung, die zu einer der größten Legenden wurde, entstand dereinst Arlyn Antasa, Herrin von Farnheim und Königin von Ardig Hall, die wiederum ihr Herz an den letzten Nauraka, der das Meer verließ, verschenkte. »Die schönste aller Frauen«, schwärmte der singende Dichter. »Ihre Heilkunst und Herzlichkeit sind weit über Valia hinaus bekannt, und auch in Nerovia findest du Statuen und Gemälde von ihr.«
»Und liebt der König von Ardig Hall sie auch?«, fragte Lurdèa, die das am meisten interessierte.
»Mit aller Hingabe, er betet sie an«, antwortete der Barde. »Und das ist kein Wunder: Die Nauraka, wo auch immer sie heute sein mögen, haben dereinst die Liebe aus der Tiefe mitgebracht.«
Wenn dem so war, hatten die Nauraka das schon lange vergessen. Lurdèa dachte bei sich, wie sehr Erenwin sich seit der Kindheit wünschte, dieses hehre Ziel zu erreichen. Und vielleicht war es auch richtig, diesem Traum nachzujagen. Sie selbst konnte jedoch nicht nachvollziehen, was nun wirklich damit gemeint war, und wie man empfand, wenn man »liebte«. Es war nicht dasselbe, was sie für Berenvil empfand, und er seinerseits für sie. Gewiss, sie besaßen viel Zuneigung füreinander, aber reichte das aus?
Auf die Frage, wie er zur Liebe stünde, hob er nur die Schultern und grinste: »Ich habe meine Erfahrung noch nicht gemacht. Aber … ich denke, ich bin nah dran.« Und dabei hatte er sie mit einem seltsamen Ausdruck angesehen, der ihr durch und durch ging. Tiefes Begehren, das auch in ihr reichlich unzüchtige Gedanken auslöste.
»Brauchen wir denn Liebe?«, fuhr er fort. »Mir gefällt die übersprudelnde Verliebtheit, die einen kopfstehen lässt.«
»Mir genügt Harmonie«, erwiderte sie. »Und Gleichgewicht.«
»Das Geteilte vereint«, schmunzelte er. »Und schon wäre der Ewige Krieg beendet.«
Sie lachte. »So einfach ist es leider nicht. Aber mir scheint, für uns beide wäre es möglich.«
»Das würde mir gefallen.«
»Ja. Mir auch.«
Er legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie leicht an sich. »Vermisst du das Meer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist mein Meer, Berenvil.«
Dass Berenvil sich von Anfang an bescheidener gegeben hatte als es der Wahrheit entsprach, erfuhr Lurdèa schnell. Ganz egal, wohin sie gingen, er wurde erkannt und ehrerbietig aufgenommen, ohne dass er auch nur ein Geldstück opfern musste. Bei den Menschen galt er als Gelehrter, sie bewunderten ihn für sein einsames Leben hoch oben auf dem Berg und verliehen ihm allein dadurch einen höheren Status. Die anderen Völker begegneten ihm mit Respekt, als bekanntem Handelspartner oder sogar Schlichter in Streitfragen.
»Du bist mehr als nur ein Burgherr!«, warf sie ihm streng vor.
»Ich schwöre dir, mein Reich ist wirklich sehr klein!«, gab er lachend zur Antwort. »Aber bevor ich sesshaft wurde, bin ich viel herumgezogen und meistens in irgendwelche Situationen geraten, die sich herumsprachen, daher kennt man mich in diesem Teil Nerovias recht gut. Stört es dich?«
»Solange wir damit täglich ein Bett und eine Mahlzeit bekommen, nicht im Geringsten.« Lurdèa verzieh ihm ohnehin alles, sie sah auch keinen Grund, warum sie es nicht tun sollte. Er bot ihr Schutz und Auskommen, war immer gut zu ihr, und sie wollte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen.
Berenvil hielt es für besser, dass niemand ihre wahre Herkunft erfuhr, denn wer wusste schon zu sagen, wie manche darauf reagieren würden, wenn sie erführen, dass die Nauraka immer noch existierten. Als Erstes erhielt sie deshalb andere Kleidung, die den Landgängern angepasst war und nicht so auffällig wie ihre ohnehin inzwischen abgerissene, dennoch bunte, aufwendig gestaltete Tracht. Und er gab Lurdèa einen anderen Namen, mit dem er sie vorstellte: Raëlle, Mohnblüte. Denn es gäbe in den Bergen einen Mohn gleichen Namens, erzählte er, dessen Blätter genauso türkisfarben seien wie ihre Augen, und dessen Kern golden glänzte, so wie die Funken in ihren Augen, wenn sie freudig erregt war.
Sie nahm den Namen an, als Sinnbild für ihr neues Leben. Das schweißte sie vor allem zusammen: Sie teilten
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