Nayidenmond (German Edition)
Dass er überhaupt genug bei Verstand sein konnte, um irgendetwas zu verstehen, war mehr, als Iyen ihm zugetraut hätte. Hatten sie die jugendliche Kraft des Prinzen unterschätzt? Möglicherweise hätte er die Reise doch überstanden? Er blickte von dem elenden Geschöpf in seinen Armen zu dem Lager, das etwa zwanzig Schritt entfernt lag. Sollte Rouven morgen Abend noch leben – was eher Wunschdenken war – dann würde ihm vermutlich die gleiche Folter drohen. Jarne und Bero waren zu zweit, er würde sie nicht aufhalten können, falls sie dazu entschlossen waren. Bei so viel Spaß, wie die beiden gehabt hatten, musste man davon ausgehen.
Nein, morgen werden wir nicht weiterreiten. Jedenfalls nicht mit dir zusammen und gewiss nicht zum Bestimmungsort. Iyen sah wieder auf Rouven herab.
Ich sollte ihm das Schlafgift geben und dann das Genick brechen , dachte er. Sinnlos, ihn noch länger zu quälen .
Müde schleppte er den Jungen zurück ans Feuer, legte ihn seitlich zu Boden. Was für ein langer, vergeudeter Tag das gewesen war! Ihm und Rouven wäre viel erspart geblieben, hätte er ihn bereits heute Mittag getötet. Oder direkt in seinem Schlafgemach.
„Verschwendet, deine Jugend, deine Schönheit, deine Kraft“, murmelte er. Selten hatte er sich so erschöpft gefühlt wie heute. Kein Oshanta sollte nach lediglich einer schlaflosen Nacht so müde sein ...
Iyen griff nach dem vergifteten Dolch und setzte sich dann neben Rouven nieder. Der junge Mann blickte ihn an, mit erschreckender Klarheit, die keinen Zweifel daran ließ, dass er wusste, was folgen würde. Ob er ihn gehört hatte?
„Ein leichtes Brennen ist alles, was du noch spüren wirst“, sagte Iyen mit einer Sanftheit, die ihn selbst überraschte. „Ich muss dich nicht einmal schneiden, ich nutze eine deiner offenen Verletzungen. Du wirst einschlafen und einfach nicht mehr aufwachen.“ Er stützte ihn im Nacken hoch, drückte ihn so an sich, dass er ihm Halt geben und trotzdem ins Gesicht blicken konnte. Es schmerzte, das Zittern des Jungen zu sehen und zu spüren. Wie gerne hätte er ihm die Angst genommen!
„Fürchte dich nicht, ich schwöre, du wirst nicht mehr leiden müssen.“ Zögernd strich er ihm über die Wange.
Warum tue ich das?
„Ich will leben“, flüsterte Rouven, so leise, dass Iyen den Sinn der Worte nur erraten konnte.
„Ich bin ein Oshanta, meine Hände bringen nichts als den Tod.“
„Ich will leben!“ Rouven fuhr auf, klammerte sich an ihm fest.
Iyen konnte den Blick kaum ertragen, mit dem er durchbohrt wurde.
Was ist denn los mit mir?!
„Wenn ich dich heute Nacht leben lasse, stirbst du morgen, entweder unterwegs oder durch ihre Hand.“ Er neigte den Kopf in Jarnes und Beros Richtung. Rouvens Griff erschlaffte, als ihn die letzten Kräfte verließen. Iyen ließ ihn wieder behutsam zu Boden gleiten und betrachtete ihn aufgewühlt. Noch immer sah Rouven ihn an, vorwurfsvoll und enttäuscht, was Iyen vollends verwirrte – was genau hatte dieser Mann bloß von ihm erwartet? Wo waren die Verzweiflung, die Todesangst, eventuell noch der Zorn?
Rouvens Augen rollten nach innen und er versank einmal mehr in gnädiger Bewusstlosigkeit. Iyen könnte ihn jetzt erlösen, müsste ihn noch nicht einmal vergiften. Widerstrebend legte er ihm die Hände um den Hals, platzierte sie sorgfältig, bis ein einziger Ruck genügen würde, um ihm das Genick zu brechen. Aber statt ihn zu töten, dachte Iyen über die seltsame Augenfarbe des jungen Prinzen nach, seine enorme Widerstandskraft. Die Worte, die er zu ihm gesagt hatte: Du bist ein guter Mensch.
Wenn Rouven das nun nicht in geistiger Verwirrung, sondern bewusst zu ihm gesagt haben sollte, was bedeutete das dann?
Du lässt ihn leiden , ermahnte er sich selbst und versuchte, es endlich hinter sich zu bringen. Doch seine Hände weigerten sich. Er konnte es nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er ein Opfer nicht töten.
„Ich möchte so gerne, dass du überlebst“, flüsterte er erstaunt und berührte ihn erneut an der Wange. Iyen hatte geglaubt, keinerlei Gefühle außer Zorn zu besitzen. Dieser Junge bewies ihm gerade das Gegenteil – und das überforderte ihn.
Was soll ich tun? Lasse ich ihn am Leben, stirbt er morgen unter unnötigen Qualen . Kurz dachte er nach, ob er Bero und Jarne dazu bringen konnte, Rouven in Ruhe zu lassen. Doch selbst wenn sie das tun würden, was würde es nutzen? Dann würden sie ihn eben töten, um ihn loszuwerden und von dem
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