Nebelgrab (German Edition)
Wassertropfen auf seinem Gesicht. Er mochte dieses Gefühl, verabscheute aber gleichzeitig die schleichende Kälte, die der November üblicherweise mit sich brachte und die seinem steifen Bein mehr Schmerzen bescherte als sonst. Er sah auf seine Uhr und trat beherzten Schrittes den Heimweg an. Käthe würde bereits wie üblich mit dem Abendessen auf ihn warten. Es war gut, seine Gewohnheiten zu haben.
Er war noch keine zehn Meter weit gegangen, der Nebel überwältigte den letzten Rest des Tages und mit ihm die Sicht auf das vor ihm liegende Weberhaus, das die örtliche Bücherei beherbergte, als Hubert von hinten angesprochen wurde.
»Herr Becker?«
Er drehte sich um, erkannte eine dunkle Gestalt und fühlte einen eisigen Schrecken, der die Abendtemperatur bei Weitem unterbot.
»Was wollen Sie? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich …«
»Halt die Klappe, alter Mann! Du weißt, was ich will, also spuck aus, was ich hören will, ansonsten halt die Klappe! Du hast sicher von Wiedeners Schicksal gehört!«
Die Erkenntnis, die Wahrheit traf Hubert wie ein Faustschlag. »Das können Sie nicht, so hören Sie doch! Was Sie verlangen, ist unmöglich. Wissen Sie eigentlich, wie lange das her ist?«
Statt zu antworten, packte der Fremde Hubert am Kragen und zog ihn in den Schatten des Weberhauses. Eine Laterne bemühte sich um Szenenbeleuchtung, doch sie konnte gegen den dichter werdenden Wolkentrieb nicht viel ausrichten. Zudem zog die dunkle Gestalt den alten Mann unter den überdachten Gang zum seitlichen Eingang des Hauses. Selbst wenn nun jemand an der Kirche und Bücherei vorbeiging, er würde in der Dunkelheit unter dem Dach nichts bemerken, denn Hubert wurde so fest an Kragen und Gesicht gepackt, dass er keinen Ton mehr von sich geben konnte.
Er spürte Angst, große Angst. Körperlich war er völlig unterlegen, also war ein Kampf mit Muskelkraft aussichtslos. Er versuchte stattdessen, die restliche Energie, die ihm seine Angst noch zubilligte, zum Nachdenken zu verwenden. Doch ihm fiel nichts ein, um aus dieser Situation herauszukommen.
»Rede! Los, rede!« Der Griff lockerte sich etwas, doch die Angst wuchs in Hubert zur Panik an; sein Herz schlug stark in seiner schwachen Brust, es schien die Rippen durchbrechen zu wollen. Die Gestalt würgte ihn, so dass ihm schwindlig wurde.
Feigling, dachte er, du mieser Feigling, du bringst gerade einen wehrlosen Alten um, der alles weiß, was du wissen willst. Aber nichts werde ich verraten, nichts, nichts …! Der Gedanke hallte in seinem Kopf wider: NICHTS schrie es in seinem Innern, bevor er mit Wucht an die Wand geschleudert wurde. Dann wurde er wieder gepackt, und erneut schlossen sich die fremden Hände mit brutaler Entschlossenheit um seinen Hals. Es blieb keine Zeit für letzte Gedanken, keine Zeit, um sich von dieser Welt zu verabschieden. Hubert sackte in sich zusammen.
Die fremde Person fühlte die Erlöschung des Lebens zwischen den Händen. Sie ließ den Körper fallen, drehte sich um und ging zügig, aber ohne Hast Richtung Hochstraße; dorthin, wo Hubert und Käthe ihre Wohnung besaßen.
Währenddessen legte sich der Nebel wie ein Leichentuch auf den Körper Huberts, deckte ihn zu und verbarg ihn für eine Weile vor den wenigen einsamen Augen, die zu dieser Stunde in der Stadt unterwegs waren.
Marthas Tod
In den Fluren des Irmgardishauses kehrte allmählich Ruhe ein. Das Küchenpersonal hatte die letzten Geschirrwagen von den Etagen scheppernd zum Aufzug und anschließend ins Erdgeschoss zur Hauptküche gebracht. Die Senioren saßen vor den Fernsehapparaten, ließen sich bei der Abendtoilette helfen oder befanden sich in der als Gemeinschaftsraum genutzten Kapelle im ersten Stock beim Samstagabend-Gespräch, das heute ganz im Zeichen des Heiligen Martin stand. Die meisten der Bewohner jedoch waren dement, bettlägerig oder beides und wurden vom Pflegepersonal für die Nacht vorbereitet.
Einige Nachzügler, die das Abendessen verpasst hatten, saßen noch in den Etagenküchen und bereiteten sich ein spätes Mahl zu. Ab und zu hörte man Gesprächsfetzen, laute Fragen, laute Antworten; das verminderte Hörvermögen der Alten führte zwangsläufig zu einer höheren Lautstärke; dazwischen schnelle Schritte des Personals, das sein Pensum in der vorgegebenen Zeit schaffen musste. Besucher gab es kaum noch.
Die Abendbeleuchtung in den Fluren brannte schon seit über zwei Stunden, um der Dunkelheit den Eintritt zu verwehren. Der November forderte
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