Nebelgrab (German Edition)
hatte Marie das Gefühl, sie hätte einen Schatten Richtung Seitentreppe verschwinden sehen.
»Elke, hast du das auch gerade bemerkt?«, fragte Marie und hielt ihre Mitarbeiterin auf. »Was?«
»War da nicht gerade jemand?« Marie ging ein paar Meter den Flur zurück.
Neben einem Buffetschrank stand eine Bodenvase mit künstlichen Amaryllis. Eine der drei Blumen wippte leicht und die Tür zur Treppe fiel mit leisem Klacken ins Schloss. Marie zuckte unwillkürlich zusammen. Sie drückte die Tür auf und lauschte in den Treppengang. Nichts. Dann hörte sie im dritten Stock, der sich unterhalb der Etage Dachstübchen befand, die Stimme der dortigen Wohnbereichsleitung.
Elke trat auch hinzu, lauschte ebenfalls und meinte: »Das waren die von unten.«
Marie empfand eine merkwürdige Erleichterung. Als alles wieder ruhig war, schloss Marie die Tür und folgte ihrer Mitarbeiterin auf den Hauptflur des obersten Stockwerkes. Hier befand sich das Zimmer der Pflegemitarbeiter, wo die Bewohnerakten aufbewahrt wurden. Marie ließ Elke ihre abschließende Arbeit tun, die aus weiteren Dokumentationen auf jeder Etage und dem Aufräumen der Kapelle bestand, damit am nächsten Morgen der Gottesdienst stattfinden konnte. Elke würde noch gute 20 Minuten damit beschäftigt sein.
Auf ihrem Rückweg zum eigenen Büro nagte irgendetwas an Maries Gedanken. Irgendetwas, das nicht seine Richtigkeit hatte. Was war es? Als sie über die Treppen nach unten ging und eine der Brandschutztüren passierte, die mit leisem Klacken ins Schloss fiel, wusste sie, dass der Schatten keine Einbildung gewesen sein konnte. Sie blieb abrupt stehen und rekapitulierte die Situation. Die Tür zum Treppenhaus hatte nicht von allein aufgehen können und die Wohnbereichsleiterin war nicht im Dachgeschoss gewesen; Marie und Elke hätten sie sonst während ihres Gesprächs mit Frau Schüttler bemerkt.
Marie überlegte kurz, ob sie oben anrufen sollte, um die Mitarbeiter um Aufklärung zu bitten, doch dann entschied sie sich, selber zu gehen. Sie drehte wieder um und lief nach oben.
Es kamen immer wieder Diebstähle vor, die durch die Vergesslichkeit mancher Senioren erst ermöglicht wurden. Man vergaß schon mal, die Wohnungstür abzuschließen; manchmal standen sogar die Türen einen Spalt weit offen. Ein Klacks für Fremde, die nach Beschäftigungen für ihre langen Finger Ausschau hielten. Die Bestürzung der alten Leute war jedes Mal enorm. Die Scham, selber die Einbrüche ermöglicht zu haben, war meist größer als der Ärger über den Verlust von Wertgegenständen. Aber das Fehlen des oft ohnehin mageren Monatsgeldes schmerzte zusätzlich.
Das alte Gebäude verfügte über mehrere Treppenhäuser, zwei in den Flügeln und eines in der Mitte des Hauses. Das mittlere führte nur bis zur dritten Etage. Marie befand sich im seitlichen Treppenaufgang, der bis ganz nach oben führte. Keuchend drückte sie dort die Tür auf, deren Zufallen sie kurz zuvor stutzig gemacht hatte.
Es war alles ruhig, alle Wohnungstüren waren geschlossen. Außer Atem klopfte sie an der ersten Tür. Um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war, würde sie überall kurz reinschauen. Herr Schmitz, ein bettlägeriger Senior, konnte nicht antworten. Sie öffnete und lugte in den Raum. Das im Halbdunkel liegende Zimmer war ordentlich, keine durchwühlte Schublade, nichts Ungewöhnliches. Herr Schmitz schlief.
Maries Atem beruhigte sich. Sie ging zur nächsten Wohnung, um auch dort nachzusehen, alles okay. Sie wollte gerade weitergehen, als sie Rauch roch. Hektisch blickte sie um sich und suchte nach der Quelle. Durch den Spalt unter Frau Schüttlers Tür drückte sich grauer Qualm wie überquellender Teig aus einem Waffeleisen auf den Flur. Mit einem Satz war sie an der Tür, unterdrückte den Impuls, sie zu öffnen, und klopfte stattdessen.
»Frau Schüttler! Halten Sie sich was vors Gesicht! Ich hole Hilfe!«
Dann raste sie auf den Hauptflur, drückte die Scheibe des Feuermelders ein, lief weiter zum Personalzimmer, rief den Mitarbeitern »Feuer!« zu und riss einem Pfleger das Telefon aus der Hand. Während sie 112 drückte, sagte sie: »Bei Frau Schüttler, schnell, Handtücher vor die Tür!«, dann hatte sie schon einen Beamten am Apparat.
Das Personal, geschult durch Brandschutzübungen, stellte keine Fragen, sondern reagierte rasch und ohne Aufruhr. Was sie jetzt nicht brauchen konnten, war Panik unter den Bewohnern. Der Alarm hatte funktioniert und die Feuerwehr war schon im
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