Nebelgrab (German Edition)
mit Beharrlichkeit seinen Tribut; das wurde Marie Lorenz jedes Mal bewusst, wenn sie in die müden Augen ihrer Senioren blickte. Sie leitete heute zusammen mit Elke Fabian die Gesprächsrunde in der Kapelle, die nur von sieben Frauen besucht wurde. Im November beteiligten sich nie viele Senioren an den Angeboten. Manchmal schaltete sich Marie in die Freizeitangebote ein, um dem Alltag der Alten näher zu sein, als sie das durch ihre verwaltende Tätigkeit sein konnte. Mit der seit vier Jahren im Haus arbeitenden Elke kam sie gut zurecht; nicht nur, dass sie mit der Pädagogin menschlich gut auskam, Elke konnte ihr durch ihr Wissen um das Haus auch sehr viel Nützliches vermitteln.
Der Tod war ein immerwährender Gast und Gespräche zur Aufarbeitung waren für alle Beteiligten ein notweniger Bestandteil einer jeden Woche, ganz besonders in den Monaten November und Februar. In diesen Wochen füllte sich das Totenbuch rasant. Anfangs hatte Marie erwartet, die meisten Todesfälle würden im Hochsommer vorkommen. Aber es war nicht die Hitze, die den Menschen den Lebenswillen nahm. Es war auch nicht die Kälte; es war die Dunkelheit, die in ihrem Schlepptau die Begehrlichkeiten des Todes brachte. Der November mit seinen Tagen des Totengedenkens, den kahlen Bäumen und dem kalten, namenlosen Regen setzte den Gemütern zu, entzog ihnen die Heiterkeit und die bunten Herbstfarben. Zurück blieb Tristesse, die nicht selten die schwachen Flammen des abgelebten Daseins auf Erden auslöschte.
Manch altem Leib mochte ein Trotzen dieser Zeiten der Dunkelheit gelingen, doch in den darauffolgenden Wochen des zehrenden Winters, wenn die Weihnachtsfestlichkeiten mit ihrem Glanz nur noch schwach in der Erinnerung leuchteten, wenn der sprühende Jahreswechsel schon im Schrank der Vergangenheit verstaut war und die Energie nicht mehr ausreichte, um das Aufbrechen der ersten Blüten abzuwarten, dann schlossen sich Lider, dann hörten Herzen auf zu schlagen.
Elke klappte das Buch zu, aus dem sie zwei Gedichte zum Abschluss der Runde vorgetragen hatte. Sie und Marie bedankten sich für das Gespräch und wünschten allen eine angenehme Nacht.
»Kommen Sie gut in den morgigen Tag und genießen Sie den Sonntagsbraten, den der Küchenchef wieder für Sie vorbereitet hat«, sagte Marie augenzwinkernd. Sie und Elke halfen anschließend den Menschen, die Kapelle zu verlassen. Als alle sieben Damen am Aufzug beisammen waren, fuhr Elke mit ihnen auf die Etagen, damit sie sicher in ihren Wohnungen ankamen. Zuletzt geleitete die Pädagogin Martha Schüttler, die heute schlecht zu Fuß war, im Rollstuhl zu ihrer Wohnung im Dachgeschoss.
»Gute Nacht, Frau Schüttler. Ich sage vorne Bescheid, dass Sie jetzt hier sind.«
»Danke, Frau Fabian. Sie gestalten die Runde immer so nett, das wollte ich Ihnen schon lange mal sagen.« Die alte Frau drückte Elkes Hand. »Und wenn Sie mal ein bisschen Zeit haben, kommen Sie sich meine alten Fotos ansehen. Dann zeige ich Ihnen, wie das Haus hier ausgesehen hat, als ich noch jung war.«
»Das würde ich gern. Danke für das Angebot. Sie sind schon als Schülerin in diesem Haus gewesen, stimmt’ s?«
»Oh ja, Lene Becker, ich meine Lene Höfer, und ich sind hier in diesem Gebäude zur Schule gegangen – im stolzen Pensionat für höhere Töchter.«
»Frau Höfer hat mir davon erzählt. Wenn sie aus dem Urlaub zurück ist, können wir drei uns mal zusammensetzen, und dann erzählen Sie mir von damals. Ich bin sicher, dass das auch viele andere hier im Haus interessieren würde. Es ist schon was Besonderes, dass dieses Haus so eine lange Geschichte hat. Vielleicht können wir noch einmal so etwas wie die Ausstellung zur heiligen Irmgardis gestalten! Ach, da fällt mir ein: Vermissen Sie immer noch etwas aus Ihrem Besitz? Sie sagten doch, dass nach der Ausstellung nicht alles vollständig war? Es waren ja alle ganz begeistert, dass Sie so viel über Irmgardis wissen und so viel Material haben!«
Die Pädagogin blickte Martha aufmerksam an. Diese schüttelte den Kopf. »Ach, vermutlich habe ich in meinem Dussel nur wieder was verlegt. Gute Nacht, Frau Fabian!«
Marie betrat den Flur und sah, wie Elke Frau Schüttler in die Wohnung schob. »Gute Nacht!«, rief sie der Seniorin zu, bevor Elke die Tür wieder schloss.
»So, dann kann ich meinen Rundgang ja beenden«, sagte Marie und wünschte Elke noch einen angenehmen Abend.
Die beiden jungen Frauen wandten sich wieder dem Hauptflur zu. Für einen Augenblick
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