Nebelriss
Magro Farghs überkam - das Würgen in seiner Kehle, wenn er den fiebrigen Körper stützte, wenn er das bleiche, geschwollene Fleisch berührte. Doch wenn die Finger des Greises seine Haut streiften, zuckte Nhordukael noch immer zusammen in jäher Erinnerung an längst vergangene Qualen.
Er konnte sich nicht entsinnen, wie lange er schon diese Dienste für Magro Fargh verrichtete. Anfangs, als er ein Kind gewesen war, hatte er zusammen mit anderen Novizen dem Hohepriester gedient; sie hatten ihn zum Schlafen entkleidet, ihm am Morgen neue Gewänder angetan, sein Nachtgeschirr geleert, seine Kammer in Ordnung gehalten. Doch mit der zunehmenden Gebrechlichkeit Magro Farghs hatte sich die Schar seiner Leibnovizen verkleinert; bald hatten nur noch vier, schließlich nur noch zwei Jungen dem Hohepriester gedient. Die anderen hatte er wegen mangelnder Tauglichkeit fortgeschickt. Geblieben waren jene, die sich ihm widerspruchslos gefügt hatten, auch wenn er aufgrund zunehmender Schmerzen, die sein Körper ihm bereitete, immer launischer und seine Bestrafungen immer grausamer geworden waren.
Eines Tages war Nhordukael als einziger Leibdiener übrig geblieben, längst kein Novize mehr und seit Jahren nicht mehr zu diesem Dienst verpflichtet. Er war nun ein Priester, Magro Fargh selbst hatte ihm die Weihe erteilt. Nhordukael brauchte nur ein Wort zu sagen, und der Tempel würde einige verschwiegene Ordensschwestern zur Pflege des Hohepriesters entsenden. Er aber würde endlich frei sein … frei! In seinen Gedanken sah er sich die verhasste Priesterkutte abstreifen; sah sich durch die Tore von Thax schreiten, jener Stadt, die ihn seit so vielen Jahren gefangen hielt. Er sah sich in ferne Länder aufbrechen; er schritt durch die geheimnisvollen Moore Troubliniens, grub seine Hände in den warmen Sand der thokischen Wüsten, blickte von den Gipfeln des Rochens über das Ende der Welt hinaus. Doch dann erinnerte er sich, dass er noch immer in jener gedrungenen Kammer in den Kellern des Tempels lebte. Und jeden Morgen stieg er erneut die Treppe zum Gemach des Hohepriesters empor.
Nhordukael wusste nicht, was ihn dazu trieb, mit solcher Hingabe den Mann zu pflegen, der ihn all die Jahre mit einer noch größeren Hingabe gequält hatte. Manchmal redete er sich ein, dass er es tat, um sich an den Schmerzen des Greises zu weiden, um den langsamen Triumph des Todes über Magro Farghs Körper mit anzusehen. Er redete sich ein, es zu genießen, der täglichen Erniedrigung des Hohepriesters beizuwohnen; zu beobachten, wie der Mann, der einst solche Macht über ihn gehabt hatte, nun die Linnen seines Bettes bekotete oder in Augenblicken geistiger Abwesenheit wie ein Kind wimmerte und flennte. Doch in seinem Innersten wusste Nhordukael, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Es war Schwäche, die ihn daran hinderte, sich Magro Fargh zu entziehen. Der Hohepriester besaß noch immer auf eigenartige Weise Macht über ihn. Längst benötigte er keine Befehle oder Bestrafungen mehr. Nhordukael gehorchte jedem seiner Blicke, jeder Weisung seiner Hand, und es herrschte die stille Übereinkunft zwischen ihnen, dass diese Form des Untergebenseins niemals enden würde.
»Sie werden kommen, bald schon … bald …« Nhordukael schreckte auf. Er hatte den Priester schlafend gewähnt. Doch Magro Fargh schlief nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Nhordukael an. »Spürst du sie schon? Bald sind sie hier … und kommen, um uns zu vernichten …«
Nhordukael streckte zögernd die Hand aus und streichelte die Stirn des Alten. Magro Fargh tastete nach seinem Ellenbogen und umklammerte ihn. Sein Blick war voller Verzweiflung. »Nhordukael … mein guter Junge«, seine Stimme kaum zu verstehen, »siehst auch du sie in der Nacht? Kommen sie auch zu dir, wenn du wehrlos im Schlaf liegst?«
Nhordukael zog die Hand zurück. Er schüttelte den Kopf.
Magro Fargh starrte ihn ungläubig an. »Spürst du nicht ihre Macht? Du wirst sie bald erleben. Ich werde bereits tot sein, wenn sie über Thax herfallen. Doch du wirst sie mit eigenen Augen sehen … wirst ihre Magie spüren, und die Angst wird dir den Hals zuschnüren.«
Nhordukael senkte den Blick. »Ich werde keine Angst haben.«
Der Hohepriester lachte heiser auf. »Was redest du da! Weißt du nicht, was sie mit dir tun werden? Tathril sei deiner Seele gnädig, wenn sie dich durch das Silber gehen lassen.«
»Ich werde keine Angst haben«, wiederholte Nhordukael mit fester Stimme.
Magro
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