Nebelriss
Widerspruch zu. »Und nun geh!«
Nhordukael wandte sich ab. Er rückte seine Kutte zurecht und wollte sich zurückziehen. Doch während er sich durch die Türöffnung schob, hörte er die heisere Stimme des Hohepriesters flüstern: »Und lerne wieder, Angst zu haben, Nhordukael«, mit einem bitteren Klang, »denn ohne Angst bist du nichts in diesen Zeiten.«
Nhordukael zog die Tür vorsichtig hinter sich zu. »Die Angst, von der Ihr sprecht«, murmelte er, »habt Ihr mir ausgetrieben.«
Seine Gedanken waren wüst und voller Grausamkeit.
Die Mittagssonne stand hoch am Himmel; hell reflektierten die Marmorplatten des Tempelhofes ihr Licht. Es war die Zeit des Sonnengebetes; ein Dutzend junger Novizen umringte den Altarstein in der Mitte des Hofes und intonierte die Gebetsformeln. Sie streckten ihre Hände flehend zum Himmel, und ihr Vorbeter - erkennbar an seinem weißen Gewand - hielt eine Schale mit geweihtem Öl empor. Die religiöse Erleuchtung stand ihnen in die Gesichter geschrieben.
Auf Ashnada wirkte die gesamte Prozedur einstudiert und lachhaft. Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Sie hockte auf der untersten Treppenstufe des Nordaufganges. Bars Balicor hatte sie angewiesen, an dieser Stelle auf ihn zu warten, solange er sich im Tempel aufhielt.
Ashnada war eine groß gewachsene, schlanke Frau. Sie hatte auffallend helles Haar, einen weißblonden Schopf, den sie meist unter ihrem Helm verbarg. Die ungewöhnliche Haarfarbe brachte ihr oft begehrliche Blicke ein. Trotzdem wurde Ashnada nur selten von aufdringlichen Männern belästigt. Ihr scharf geschnittener Mund, ihr herrischer Gang und die dunklen, stechenden Augen verrieten deutlich, dass sie keinen Wert auf Gesellschaft legte und dass sie durchaus bereit war, das Langschwert an ihrer Seite zu gebrauchen, wenn man sie nicht in Ruhe ließ.
Lustlos schob Ashnada mit der Schuhspitze einen Kieselstein auf den Marmorplatten herum. Sie hoffte, dass der Prior seine Besprechung mit den Tempelrittern bald beenden würde. Wenn sie Glück hatte, würde er sie für den Rest des Tages fortschicken. Seine Laune war bereits am Morgen schlecht gewesen, und Ashnada schätzte, dass die Bitten und Beschwerden der Tempelritter seinen Zorn noch vergrößert hatten.
»Bist du die Leibwächterin des Erzpriors?«
Ashnada blickte erstaunt zur Seite. Sie hatte den Jungen nicht kommen hören; ein acht-, neunjähriger Bengel mit kurz geschorenem Haar und verdreckten Leinenkleidern. Das grüne Halsband verriet, dass ihn ein Botendienst gesandt hatte. Er stand neben der Treppe; seine Hände umklammerten eine Schriftrolle. »Die Wachen sagten, dass ich sie hier finde.«
»Hast du eine Botschaft für den Prior?«, fragte Ashnada.
Der Junge schüttelte eifrig den Kopf. »Nein! Es ist eine Botschaft für seine Leibwächterin. Ich darf sie nur ihr überreichen.«
Ashnada blickte ihn voller Misstrauen an. »Eine merkwürdige Botschaft. Wer hat dich geschickt?« Der Junge gab keine Antwort. Er zuckte nur mit den Schultern und starrte sie mit unverhohlener Neugier an. »Gib schon her«, sagte Ashnada mürrisch und streckte die Hand aus.
Zögernd reichte der Junge ihr die Botschaft. Seine Augen waren auf ihr Schwert gerichtet, das sie auf eine der Stufen gelegt hatte. »Bist du eine echte Kriegerin? Du hast sicher in vielen Schlachten gekämpft. Meine Großmutter ist auch schon in einem Krieg gewesen. Aber sie hat nicht gekämpft, und sie hatte kein Schwert. Sie hat für die Krieger gekocht. Sie sagt, es sei furchtbar, wenn der Kampf beginnt - all die Todesschreie …« Ashnada versuchte, das harte Siegelwachs mit ihren Fingernägeln aufzubrechen. »Ich habe keine Zeit für deine Fragen. Mach, dass du wegkommst.«
Der Junge blieb ungerührt stehen. »Du bist viel zu hübsch für eine Kriegerin. Wieso hast du keine Rüstung? Wenn ich ein Krieger wäre, würde ich niemals ohne Rüstung herumlaufen. Wer keine Rüstung trägt, dem kann man ganz leicht den Arm abschlagen, mit einem Hieb, sagt mein Vater.«
»Oder den Kopf«, zischte Ashnada und griff zur Einschüchterung nach ihrem Schwert.
Der Junge wich einige Schritte zurück, doch seine Neugier war größer als die Angst. »Mein Vater sagt, dass es bald wieder Krieg geben wird. Er sagt, dass Ungeheuer über den Rochen kommen werden, die Feuer speien und deren Zähne aus Gold sind. Er sagt, dass sie die ganze Stadt in Schutt und Asche legen wollen, in Schutt - und Asche.« Diese Worte schienen ihm Spaß zu machen, denn er
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