Nebelriss
bestimmt nicht«, sagte Tundia mit trockener Stimme. Erneut warf sie einen vorsichtigen Seitenblick auf ihre Tochter. »Wisst Ihr denn nicht, wie Syllana zu Tode kam?« Ceyla konnte den Hauch der Worte an ihrer Wange spüren. »Es war, als der Kaiser zur Jagd ritt. Syllana war zurückgefallen, und ihre Begleiter hatten sie für einen Moment aus den Augen verloren. Dann hörte man ihre Schreie und ein wildes Bellen und Brüllen.« Tundia hielt kurz inne, um mit flüsternder Stimme fortzufahren. »Sie lebte noch, als man sie auf der Lichtung fand. Die Biester hatten ihr bereits die Arme abgerissen; es hieß, dass ihr weißes Kleid in Blut gebadet war und man ihr Gesicht kaum mehr erkennen konnte; nur ihre Schreie, ihre furchtbaren Schreie waren zu hören, doch auch die verstummten bald.«
Ceyla war kreideweiß angelaufen. Sie wich vor Tundia zurück, den Mund vor Entsetzen geöffnet. »Neun wilde Hunde waren es«, sagte Tundia, »ein ganzes Rudel, vollkommen ausgehungert und gierig nach Blut. Sie haben sie zerrissen wie ein junges Reh. Es heißt, dass sie in ihrem Mordrausch nicht einmal merkten, wie sich die Krieger mit gezückten Schwertern auf sie stürzten; dass sie noch immer ihre Beute herunter schlangen, als man ihnen die Köpfe abschlug.«
Ceyla riss sich von Tundia los, strauchelte, hielt sich die Hände an die Ohren. »Hört auf!«, schrie sie. »Ich bitte Euch, hört auf!«
»Ich weiß, es ist eine furchtbare Geschichte«, erwiderte Tundia. »Ich erzähle sie Euch nur ungern. Akendor hat diesen Unfall, den schrecklichen Tod seiner geliebten Frau niemals überwunden. Ich wette, er hat Euch nie von Syllana erzählt, feige wie er ist.«
»Er ist nicht feige!«, stieß Ceyla verzweifelt hervor, »und ich glaube Euch kein Wort!« Sie stürzte zur Empore. Ihre tränenverhangenen Augen suchten Akendors Gestalt. »Er ist liebevoll und zärtlich … und er ist der Kaiser …«
Tundia blickte Ceyla kopfschüttelnd an. »Armes Mädchen! Du weißt nicht, wie feige ein Mensch sein kann, wenn man ihn in die Ecke treibt.« Sie beugte sich zu ihrer Tochter herab und nahm sie auf den Arm. »Du bist sehr jung, Ceyla, und offenbar nicht besonders klug. Doch ich sehe in deinen Augen, dass du dich in deiner Rolle unwohl fühlst. Ein inneres Gespür warnt dich vor Akendor - nicht wahr?« Zufrieden sah sie, dass Ceyla den Kopf senkte. »Höre auf deine Instinkte! Niemand kann dich zu etwas zwingen, das du nicht willst - auch Akendor nicht. Du kennst deinen Stand, und du weißt, dass sich ein Mädchen aus dem niederen Adel nicht als Kaiserin eignet! Geh fort aus Thax; geh fort, solange du noch kannst!«
Ceyla gab keine Antwort. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ihr Körper zitterte. Unter sich hörte sie das Lachen und Singen der feiernden Menge; und in diesem Augenblick fühlte sie sich entsetzlich einsam. Eine Tür klappte leise zu. Tundia Suant war gegangen. Langsam ließ Ceyla die Hände sinken. Ihre Augen waren voller Tränen. Als sie von der Empore herabblickte, bemerkte sie, dass zahlreiche Augenpaare auf sie gerichtet waren. Es sprach Hohn aus den Blicken der Adeligen. Schnell wandte Ceyla sich ab. Scham trieb ihr die Röte in das Gesicht.
Reiß dich zusammen,
befahl sie sich,
reiß dich zusammen!
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und eilte die Treppe zum Saal hinab; dort, wo sich unter den Feiernden Akendor befand, ihr Geliebter, dessen Umarmung sie brauchte wie nie zuvor.
Die Weihungshalle war das Herzstück des Tempels von Thax, der heiligste Ort innerhalb seiner Mauern. Ihre Wände hoben sich eindrucksvoll empor, um schließlich in eine silberne Kuppel überzugehen. Zahlreiche gläserne Fenster waren in die Strebungen der Kuppel eingefasst. Durch sie stürzte das Licht herab und ließ das Heiligtum in der Mitte der Halle erstrahlen: eine riesige, schmale Säule aus weißem Marmor, die bis zur Decke emporragte - das Symbol für Tathrils Erhabenheit.
Vor ihr stand Bars Balicor, der Erzprior des Tempels zum Silbernen Mund Tathrils. Schon seit Stunden verharrte er an diesem Ort, die Hände demutsvoll vor der Brust verschränkt. An seiner Seite knieten mehrere Priester und Tempelritter. Leise murmelten sie Bußformeln vor sich her, um Balicors Gebete zu unterstützen. Ab und zu warfen sie sich unsichere Blicke zu. Das Verhalten des Erzpriors erschien ihnen recht ungewöhnlich. Selten pflegte er Tathril derart lange und ausdauernd anzuflehen, zumal an einem so fröhlichen Festtag wie dem Tag der
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