Nebelriss
Ernte.
Bars Balicor konnte sich sein Verhalten selbst kaum erklären. Es war Jahre her, dass er so innig und ernsthaft gebetet hatte. Doch die Angst, die ihm seit Tagen den Schlaf raubte, hatte ihn zur Heiligen Säule getrieben. Die plötzliche Hoffnung, dass Tathril ihn von dieser Angst erlösen konnte, ließ ihn nun schon seit mehreren Stunden im Gebet verharren.
Tathril, du über alles erhabener Gott, lass es nicht wahr sein; lass es einen bösen Traum gewesen sein, ein Spukbild … mache, dass der dunkle Schatten, der in mein Leben getreten ist, sich als Betrug oder Täuschung erweist … hilf mir, Tathril, und ich schwöre dir, ich will dir zum Dank ein Opfer bringen, größer und wunderbarer als alle vorangegangenen … hilf deinem ergebenen Diener, Tathril, hilf mir …
Nach Ashnadas Rückkehr hatte Bars Balicor nicht lange gezögert. Sogleich hatte er zwanzig Tempelritter zu dem verfallenen Haus entsandt, in dem Ashnada dem unheimlichen Bettler begegnet war. Doch die Ritter hatten das Haus leer vorgefunden, im Inneren nichts als Staub und Ratten, keine Spur von dem Mann oder der seltsamen Truhe, die Ashnada gesehen haben wollte. Laut den Aussagen der Anwohner war die alte Schenke seit vielen Jahren unbewohnt. So waren die Ritter mit leeren Händen zurückgekehrt. Doch Balicor wusste, dass seine Leibwächterin die Wahrheit gesprochen hatte, auch wenn sein Gefühl ihm sagte, dass sie ihm nicht alles über ihr Zusammentreffen mit dem Bettler erzählt hatte. Noch immer befand Ashnada sich in der Obhut der Ordensschwestern, die sich um ihre verbrannte Hand kümmerten. Es
werden mehrere Wochen vergehen, bis sie wieder in der Lage ist, ein Schwert zu führen! Bei Tathril, was nützt mir eine Leibwache, deren Schwerthand zerschunden ist; eine Leibwache, die mich zudem belügt! Ich hätte die elende Gyranerin im Feuer brennen lassen sollen wie ihre Gefährten! Sicher, ihre Fähigkeiten waren recht hilfreich in all den Jahren; doch ich weiß wohl, dass sie mir nicht aus freiem Willen dient, sondern weil ich sie dazu zwinge; dass sie mich hasst und auf immer hassen wird!
Die Stimme eines Tempeldieners riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Novize stand mit gesenktem Haupt vor ihm. »Verzeiht, dass ich Euer Gebet unterbreche, Erzprior.«
»Bitte nicht mich um Verzeihung, sondern Tathril«, knurrte Balicor. »Was gibt es?«
»Eine Gesandtschaft von Kaufleuten wünscht von Euch empfangen zu werden. Sie behaupten, Ihr würdet sie erwarten.«
»Wen sollte ich am Tag der Ernte erwarten?«, rief Balicor. »Ist den Krämern nicht einmal dieser Festtag heilig?« »Sie sagen, dass sie aus dem fernen Troublinien angereist seien, um Euch zu sehen«, antwortete der Novize eingeschüchtert.
Bars Balicor blickte ihn missmutig an. »Troublinische Kaufleute? Wozu soll ich meine Zeit mit solchem Krämerpack vergeuden? Sag ihnen, sie sollen sich …« Er hielt plötzlich inne. »Troublinische Kaufleute«, murmelte er.
Sagte Ashnada nicht, dass der Bettler ein troublinisches Kaufmannsgewand trug, als sie ihn in dem verfallenen Haus antraf? Dass er … Nein! Es kann nicht sein, es darf nicht sein … Tathril, steh mir bei!
»Bringe sie herein!«, befahl er. Während der Novize sich entfernte, wandte er sich wieder der Säule zu. Mit einer herrischen Geste bedeutete er den Priestern und Rittern, sich zurückzuziehen. Rasch standen sie auf und verließen die Weihungshalle.
Angstvoll starrte Bars Balicor zur silbernen Kuppel der Halle hinauf. »Wenn dieser Albtraum wahr ist, dann lasse ihn jetzt beginnen, Tathril«, flüsterte er. »Quäle mich nicht länger mit Ungewissheit.« Er hörte, wie das große Tor der Weihungshalle geöffnet wurde. Schritte erklangen auf dem marmornen Boden, das Rauschen von Mänteln, ein leises Flüstern.
Bars Balicor zog seine weiße Kutte glatt und drehte sich ruckartig um. Mit strengem Blick betrachtete er die Troub-linier. Sie waren zu fünft gekommen; eine Frau und vier Männer, gekleidet in die roten Gewänder der troublinischen Kaufmannsschicht. Der Älteste von ihnen, ein graubärtiger Mann von auffallender Größe, tat einen Schritt vor. Seine blassen, fleischigen Lippen waren zu einem bösartigen Grinsen verzogen. Bars Balicor erbleichte. Er hatte ihn nicht sofort erkannt; zu fremdartig wirkte das edle Kaufmannsgewand, das ordentlich geschnittene Haar. Nichts erinnerte an den ausgemergelten Bettler, der ihm vor dem Tempel aufgelauert hatte; nichts erinnerte an …
»Rumos!«, stieß Bars Balicor
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