Nebelschleier
sah immer noch so makellos aus wie an seinem ersten Tag. Auch wenn sie das Auto kaum benutzte und es meist im Schuppen stand, sie wusch es jede Woche. Marga war schon immer eine besondere Person gewesen und lebte in einer ganz eigenen Welt, die streng geordnet war, damit sie die Übersicht behielt. Nur so fühlte sie sich sicher. Warum das so war, hatte Angermüller nie herausgefunden. Aber sie meisterte ihren Alltag und schien auf ihre Art glücklich und zufrieden zu sein.
Das Erste, was Marga ihrem Bruder in ihrer ernsthaften Art sagte, war, wie schade sie es fand, dass ihre Schwägerin nicht mitgekommen war, vor allem, weil sie noch etwas zum Anziehen für die Geburtstagsfeier am Sonntag benötigte. Astrid war schon mehrmals mit ihr nach Coburg gefahren und hatte ihr beim Kauf neuer Garderobe beratend zur Seite gestanden. Marga hatte weder ein Händchen noch einen Nerv für den Kleiderkauf und vertraute Astrid blind.
Als sie auf den Hof fuhren, wartete die Mutter schon im Eingang unter der hölzernen Veranda, um die sich ein immer noch blühender Rosenstrauch rankte. Ein Gefühl der Rührung überkam Georg Angermüller beim Anblick seiner Mutter: Kleiner als in seiner Erinnerung und rundlich wie eh und je, in eine ihrer unvermeidlichen Kittelschürzen gekleidet, stand sie da. Ihre Schultern waren leicht nach vorn gebeugt und das weiße Haar praktisch kurz geschnitten. Er hatte sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen und sie war in diesem Zeitraum merklich gealtert. Schnell stieg er aus dem Wagen, um sie zu begrüßen.
»Na endlich! Warum hat des denn so lang gedauert? Ich wart ja schon e halbe Ewigkeit …«
Sie streckte ihm ihre Hand zur Begrüßung hin, die sich genau wie früher anfühlte, hart und rau.
»Hallo, Mamma! Ich freu mich so, dich zu sehen!«
Georg ließ ihre Hand los und umarmte sie fest. Nur kurz ließ sie ihn gewähren, er konnte ihr gerade noch einen Kuss auf die Wange drücken, dann schob sie ihn energisch beiseite.
»Nu komm rein! Du wirscht en Hunger ham – ich hab an Käskuchen gebacken.«
»Mensch, Mamma! Wunderbar!«
Er lief zu Marga, die mit seinem Koffer über den Hof kam, und nahm ihn ihr ab.
»Hier sieht ’ s aus wie immer! Schön!«
»Du bist fei gut!«, protestierte seine Schwester. »Haste net gsehn, dass des Dach vom Schuppn neu gmacht worden is? Und die Dür hab ich selber gstrichn!«
An der linken Seite des gepflasterten Hofes befand sich das Wohnhaus, dessen erster Stock bis unters Dach mit blauen und weißen Schieferschindeln verkleidet war, gegenüber der Schuppen, an dessen einer Wand sich Feuerholz stapelte, die andere dicht bewachsen mit Knöterich. Vorm Haus, zwischen Veranda und Küchenfenster, stand immer noch die alte Holzbank, auf der Mutter und Schwester an warmen Abenden zu sitzen pflegten. An der Rückseite des Hauses, wo sich ein weitläufiger Obst- und Gemüsegarten erstreckte, gab es einen viel schöneren Platz mit Blick in die Felder und Wiesen des Itztales bis zu dem Wäldchen, über dem sich das Schloss Rosenau erhob, doch die beiden Frauen zogen den Blick auf die Dorfstraße vor, wo hin und wieder einmal jemand vorbeikam und sich ein Schwätzchen ergab.
Während des Kaffeetrinkens erzählte Georg von den jüngsten Heldentaten seiner Zwillingstöchter, entschuldigte noch einmal Astrids Fernbleiben und erwähnte ihr vages Versprechen, nachzukommen, wenn irgend möglich. Natürlich war der Käsekuchen seiner Mutter die reine Sünde: ein großes Rad aus lockerem Hefeboden, darauf süßer Quark mit reichlich Rahm, Zimt und aromatischen Rosinen und nach dem Backen großzügig mit gebräunter Butter bepinselt – köstlich! Allerdings wären zwei Stück davon auch genug gewesen. Anschließend verteilte er seine Mitbringsel, eine große Packung echtes Lübecker Marzipan für die Mutter und eine Schneekugel mit dem Holstentor für Marga – sie sammelte Schneekugeln mit Leidenschaft.
Als die Mutter sich wieder in die Küche zurückzog und jegliche Hilfe beim Abwasch ablehnte, machte sich Georg mit Marga zu einem Spaziergang durch die Wiesen auf. Das ruhige, warme Wetter der vergangenen Wochen ließ diesen Oktobertag noch wie Spätsommer erscheinen, wenn sich auch mehr und mehr orangegelbe Flammen in das Grün der Laubbäume mischten. Obwohl die Sonne schon recht tief stand, wärmte sie mit unverminderter Kraft. Plötzlich fand er es gar nicht mehr so schlecht, allein hierher gekommen zu sein – das Wetter war wie gemacht für ein paar wunderbar
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