Nebelsphäre - haltlos (German Edition)
einmal über das Ganze zu schlafen. Schließlich würde sie ihn morgen sowieso nicht sehen.
Als Victoria am nächsten Tag gegen zehn Uhr auf den Campus kam, wusste sie mit Sicherheit, dass Professor Custos Portae nicht auf dem Gelände war.
Zwei Stunden später – ihre Algebraübung bei Herrn Werner war gerade vorüber – spürte sie, wie sich Custos Portae der Universität näherte und das Hauptgebäude betrat.
Es war, als würde sie das Bild mit einer Art innerem Auge sehen – teilweise etwas unscharf. So wusste sie beispielsweise nicht, welche Farbe sein Hemd hatte, aber dafür war sie sich sicher, dass sich der Stoff angenehm trug und die oberen Knöpfe geöffnet waren. Wo er genau entlanglief, konnte sie auch nicht sehen. Aber sie erkannte, dass er sein Auto abschloss, ein paar Stufen heraufstieg, dass ein leichter Windstoß durch seine Haare streifte und er die Sonne auf seiner Haut genoss. Außerdem konnte sie abschätzen, wo ungefähr er sich, bezogen auf ihren Standpunkt, befand. Verbunden mit ihrer Ortskenntnis vom Campus, insbesondere der der Mathematischen Fakultät, schätzte sie, dass er jetzt auf der Treppe in den zweiten Stock war.
Victoria war verblüfft. Es war, als wäre ihr über Nacht ein neuer Sinn gewachsen.
„Das ist ja … unglaublich … wie kann das sein?“
Plötzlich musste sie unbedingt wissen, ob das stimmte, was sie wahrgenommen hatte. In wenigen Augenblicken würde der Professor den Flur zu seinem Büro betreten. Das war nur ein paar Gänge von ihr entfernt.
Die Übung war zu Ende, also warf sie ihre Sachen wahllos in den Rucksack, schwang diesen auf ihren Rücken und rannte los. Ein paar Kommilitonen guckten zwar irritiert, aber das war ihr egal.
Zum Glück war keiner ihrer Freunde in dieser Übung. „Andernfalls hätte ich wohl einiges zu erklären gehabt.“ Sie grinste.
Dann konzentrierte sie sich wieder. Ihr neu erwachter Sinn verriet ihr, dass Professor Custos Portae gleich um die nächste Ecke biegen würde. Sie bremste ab und ging normalen Schrittes den Flur entlang.
Leider hatte sie nicht bedacht, dass sie durch die Rennerei noch außer Atem war. „Wie peinlich! … Aber das lässt sich jetzt wohl kaum ändern.“
Sie versuchte, normal zu atmen, aber als der Professor um die Ecke kam, schnaufte sie immer noch ein wenig. Trotzdem dachte sie völlig aus dem Häuschen: „Das hat tatsächlich geklappt! Wie geht das denn? Unglaublich!“
Dann fiel Victoria ein, dass er ihre Gedanken ja lesen konnte und wusste gar nicht mehr, was sie denken sollte. Prompt wurde sie rot. „Tja, das kommt davon, wenn man nicht vorher nachdenkt“ , s chimpfte sie mit sich selbst.
Jetzt bemerkte der Professor sie.
Er lächelte sie unsicher an und seine warmen, braunen Augen tauchten sie in flüssiges Glück.
Ob sie wollte oder nicht, sie dachte: „Ich liebe diese Augen!“ und lächelte zurück.
Das Leuchten in seinen Augen wurde zu einem Strahlen. „Guten Tag, Frau Abendrot.“
„Hallo, Herr Professor Custos Portae.“
Er zwinkerte. „Ich hoffe, Sie sind auf dem Weg in die Mensa.“
„Genau dort wollte ich gerade hin“, gab sie grinsend zurück.
Er lächelte. „Na dann, guten Hunger!“
Sie lächelte zurück. „Vielen Dank und bis morgen!“
Victoria konnte es kaum fassen und dachte glücklich: „Das war ja fast schon ein ganz normales Gespräch!“
Dann fiel ihr erst auf, was noch viel unglaublicher war: Sie wusste, wo er war und in groben Zügen auch, was er tat. Wie krass war das denn?
Auch wenn das nur funktionierte, wenn er in der Nähe war. Aber trotzdem: voll krass! Das war ja wirklich unfassbar!
Sie konzentrierte sich erneut und bemerkte, dass Jaromir Custos Portae bei seinem Büro angekommen war und gerade die Tür aufschloss.
„Wie heftig ist das denn?!!!! Voll krass.“ Ihr blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg.
Sie konnte sich kaum beruhigen.
Was passierte mit ihr?!?!?!?
„Ich gehe jetzt erst mal in die Mensa – glaube ich…“
Sie war zwar viel zu aufgeregt, um irgendetwas zu essen, aber das war egal – sie musste jetzt dringend etwas tun und irgendwelche Beweise zu lesen, um runterzukommen, ging jetzt mal gar nicht!
„Du wirst verrückt, das ist dir ja wohl klar!“, sagte sie kopfschüttelnd zu sich selbst.
Auf dem Weg zur Mensa konzentrierte sie sich immer mal wieder und erkannte, dass Professor Custos Portae etwas schrieb, sich einen Kaffee holte, mit jemandem sprach und einmal sogar telefonierte.
In der Mensa traf
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