Nebelsphäre - haltlos (German Edition)
Vorlesung bereits nach wenigen Augenblicken vollkommen durchdrungen. Es war ihr einfach unmöglich, mit Jaromir verbunden zu sein und während der Vorlesung oder Übung NICHT die Mathematik in seinem Kopf zu sehen. Das ging überhaupt nicht.
Würde sie sich trotzdem an den fachlichen Diskussionen beteiligen, käme es ihr so vor, als würde sie Jaromirs Gedanken als ihre eigenen verkaufen. „Das ist ja fast wie schummeln! Das mach ich auf gar keinen Fall!“ , stellte sie für sich fest.
Außerdem war es ihr ganz recht, wenn sie in seiner Gegenwart nicht die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich zog. Sie hatte immer den Eindruck, man könne ihr an der Nasenspitze ansehen, wie sehr sie in ihren Professor verliebt war. Kerstin fing auch so schon an, unbewusst Verdacht zu schöpfen.
Also beschränkte sie sich darauf, ihn einfach nur anzusehen und in einem privaten Raum ihres Geistes vor sich hin zu träumen. Hier grübelte sie dann auch darüber nach, wie langweilig die Mathematik geworden war, seitdem sie die Lösungen schon in den Köpfen anderer Menschen sah. Gerade das Knobeln hatte ihr immer Spaß gemacht. Es war fast wie mit Witzen, deren Pointe man schon kannte: richtig von Herzen lachen konnte man einfach nicht mehr.
Darüber hatte sie sich dann auch eines Abends mit Jaromir unterhalten. Er gab ihr einfach ein paar zusätzliche Aufgaben – schriftlich – ansonsten hätte sie auch bei ihm schon die Antworten gesehen.
Zeit für die zusätzlichen Arbeiten hatte sie jetzt genug, schließlich wurde sie nun viel schneller als sonst mit den Übungen fertig. In der Tat hatte sie die Beweise größtenteils einfach nur runter geschrieben; die Lösungsansätze hatte sie meist schon während der Vorlesungen in den Gedanken der Professoren gesehen.
„Tja“ , dachte sie ironisch, „es ist schon merkwürdig. Letzte Woche verstehe ich nur Bahnhof und komme überhaupt nicht mit und jetzt langweile ich mich. Eines ist mal klar: alles wird anders! Wohin wird das bloß noch führen?“
Sie hatte den Eindruck, dass sich ihre Welt zurzeit fast täglich einmal komplett auf den Kopf stellte.
In dieser Woche blieb sie jede zweite Nacht bei Jaromir. Tatsächlich war sie nur am Dienstag zum traditionellen Nudelessen mit J zu Hause und dann noch am Donnerstag.
J leistete schon seit längerem ganze Arbeit, indem er ihren Eltern und auch ihren Freunden kleine Notlügen über ihre Abwesenheit auftischte. Die Sache mit dem Schachclub hatte sie J recht früh erzählt und der gab die Ausrede offensichtlich ganz ungeniert und sehr glaubhaft weiter. Sie hatte die Leute immer zurückgerufen, wenn Jaromir sie nach dem Abendessen wieder nach Hause gebracht hatte.
Seit dieser Woche musste J jedoch viel häufiger ran. Ihre Mutter war schon lange wenig begeistert davon, dass sie seit dem Semesteranfang nicht mehr in Glückstadt gewesen war und fragte immer, wann sie denn endlich mal wieder nach Hause kommen würde. Das wollte sie bei jedem Anruf eben auch von ihren Mitbewohner wissen – J konnte schon ein Lied davon singen.
Wohlweislich hatte er ihrer Mutter nichts vom Überfall erzählt, ansonsten wäre Giesela wohl noch in derselben Stunde ins Auto gestiegen und hätte sich persönlich von Victorias Unversehrtheit überzeugt.
Nein, J war schlau und wirklich ein Engel! Er erzählte Victorias Mutter, dass dieses Semester eben besonders schwierig sei und sie sich häufig mit ihren Kommilitonen zum Lernen traf.
Als ihre Mutter sich eines Tages zum wiederholten Male ihm gegenüber besorgt zeigte, dass Victoria nur noch studieren würde, widersprach er ihr und wies auf den Schachclub hin, der ja nichts mit dem Studium zu tun habe.
Da seufzte ihre Mutter: „Ach, Victoria hatte immer schon sehr merkwürdige Hobbys. Sie hat sich bereits als Kind für all diese schrecklich logischen Dinge interessiert, die kein normaler Mensch in seiner Freizeit macht.“
J musste der Frau insgeheim recht geben, aber betonte, dass Victoria nach diesen Veranstaltungen immer ganz entspannt nach Hause kommen würde. Und das war ja schließlich auch die Wahrheit.
Als J Victoria am nächsten Tag von diesem Gespräch berichtete und sie seine Erinnerungen sehen konnte, musste sie herzhaft lachen. Allerdings sah sie auch, dass die Anrufe ihrer Mutter für J langsam lästig wurden.
Victoria überlegte, was sie tun sollte. Einfach am nächsten Wochenende nach Glückstadt fahren wollte sie nicht. Erstens konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass
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