Neben Der Spur
gibt ihre Deckung auf, stürzt auf den Schnauzbart zu. »Fassen Sie sie bitte nicht an! Sie mag das nicht.«
»Sie sin die Mudder? Schicke Ihne-Ihr Dochter zum Bettele?«
»Ich bin nicht … Sie bettelt nicht. Sie ist … ist behindert.«
»Ei, umso schlimmer!«
Eine Traube Leute sammelt sich. Der Schnauzbart wird laut: »E behinnerdes Kind zum Bettele schicke, des geheert sisch net!«
»Sie bettelt nicht«, wiederholt Karo, »sie malt doch nur. – Komm, Mira, wir gehen jetzt ein Eis essen.« Sie bückt sich nach der Mütze, schüttelt sie, dass die Centstücke dem Schnauzbärtigen vor die Füße kullern. »Und das, guter Mann, ist für Sie!«
Miras Blick flackert, sie lässt ihr Kreidestück fallen.
»Ich kauf dir ein großes Vanilleeis, Schätzchen«, sagt Karo und schultert Miras Kindergartentasche, überlegt dabei verzweifelt, wie sie das Kind von der Stelle bekommt, ohne einen noch größeren Menschenauflauf zu verursachen …
Da geschieht ein Wunder. Mira steht auf, stellt sich dicht neben Karo und wartet ab. Karo geht einen Schritt und Mira folgt einen Schritt. Karo geht noch einen Schritt, Mira folgt. Karo geht drei Schritte, Mira folgt. Langsam, aber unbeirrt tapert sie die Fußgängerzone entlang hinter Karo her. Dabei scheint ihr Blick die Fassaden der Häuser abzuscannen. Vielleicht hat das Wunder mit dem Stichwort Eis zu tun? Egal, sie erreichen das kleine italienische Café, wo just ein Tisch in der Sonne frei wird.
Karo bestellt drei Kugeln Eis für Mira. »Vanille, Schoko und … und noch mal Vanille.« Mira isst nämlich nichts mit Stückchen oder Körnchen drin. Und nichts Süßsaures. Das hat Bea Karo mal erzählt. Dafür liebt Mira Sahne. »Und bitte eine Extraportion Sahne«, sagt Karo.
Die Bedienung schreibt mit.
»Für mich einen Espre… äh, nein, einen Eiskaffee. Auch mit Vanilleeis. Und mit – äh – ohne Sahne, bitte!«
»Mit? Oder ohne?«
»Mit!«
Die Bedienung petzt die Lippen zusammen und notiert es sich.
Mira behält artig Platz, setzt ihre Mütze auf, legt ihre Tasche auf dem freien Stuhl neben sich und baumelt mit den Beinen. Wie ein ganz normales Kind. Ja, wirklich! Das Einzige, was hier verrücktspielt, ist der flirrende Schatten eines eingepflasterten Laubbäumchens neben ihren Sitzplätzen. Karo sieht sich um. Niemand wirft komische Blicke. – Oder doch? Zwei Halbwüchsige gucken her, allerdings fixieren sie nicht Mira, sondern Karos Leinenbeutel, aus der Big Girl Now von Lady Gaga anschwillt. Es ist die Heimleitung. Mira sei verschwunden und da die Mutter nicht erreichbar sei …
»Hab sie schon gefunden«, lacht Karo. »Alles okay. Wir sitzen in der Innenstadt und essen Eis. – Wie sie hergekommen ist? Tja, das sollten Sie rasch mal rausfinden. Wenn Mira lesen kann, dann schafft sie wohl auch andere Dinge. – Abholen lassen? Nein, bitte nicht, ich bringe sie später bei Ihnen vorbei. – Nein, das macht mir keine Umstände. Nein, ganz bestimmt nicht!«
Was tun, wenn eine Frau mit den Tränen kämpft? Wenn die Frau, die man liebt, mit den Tränen kämpft? Hans-Bernward de Beer weiß es sehr wohl, hat es in seiner geschiedenen Ehe mit einem ehemaligen Funkenmariechen – einem auch jenseits der dreißig noch überaus kapriziösen Temperament – schmerzvoll erlernt: Man muss die Frau, die man liebt, sofort in den Arm nehmen, ihr sagen, dass sie die Schönste ist und so weiter. Hans-Bernwards vorderstes Bestreben wäre es daher, exakt diese Form der Zuwendung in diesem Augenblick seiner geliebten Gudrun angedeihen zu lassen. Aber es ist ihm nicht möglich. Seine beiden Hände umkrallen das Steuer von Gudruns Volvo, um selbigen unfallfrei durch den Innenstadtverkehr zum Staatstheater zu manövrieren, wo in einer Viertelstunde die Orchesterprobe beginnt. Die Augen muss Hans-Bernward auf die Fahrbahn heften, denn von links und rechts drängen andere Pkw auf seine Spur. Erschwerend hinzu kommen die vielen Radfahrer, die aus dem Hinterhalt heranwuseln.
Die allergrößte Widrigkeit indes hat nicht mit dem Innenstadtverkehr zu tun, sondern damit, dass Hans-Bernward zwar Gudrun liebt, Gudrun aber einen anderen.
»Rolf nimmt mich nicht ernst … hält mich für … verrückt«, jammert sie.
»Na, na«, sagt Hans-Bernward und schüttelt den Kopf. Mehr nicht. Denn er hält Rolf für ein … Nein, er verwendet das Wort, mit dem er Rolf Westenberger charakterisieren würde, nicht einmal in Gedanken. Das verbietet ihm seine Kinderstube.
»Es ist … wegen …
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