Neben Der Spur
Chefredakteur auf dem Schoß, weißt du. Und ich will’s mir mit dem Tagblatt nicht komplett verderben.«
»Aber wir müssen uns nicht zu dem Typen stellen, oder?«
»Nö, das nicht.«
»Wir schmusen ein bisschen, dann zieht er ab.«
»Oder wir gehen woanders hin.«
»Ins Kino?«
»Schlage vor: Heimkino. Hab mir gestern einen Actionfilm runtergeladen.«
»Gute Idee!«
Karo holt ihre Jacke, steuert mit Rick den Ausgang an. Dort hat sich Alex schon in Position gebracht, fixiert sie, ruft irgendwas. Aloe Blaccs Loving you is killing me peitscht jedes Wort nieder. Karo witscht hinter Rick her ins Freie. Es hat geregnet, der Asphalt, der am Nachmittag ein wenig Augustsonne abbekommen hat, dampft. Die schwüle Hitze und Ricks starker Arm hüllen Karo ein. Aber Alex’ Lippenbewegungen haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es sah aus wie: »Pass auf, Karo!«
Klarer Fall: Er will sie erpressen. Will sie in die Bombenlegergeschichte ziehen. Andernfalls den Hepps von ihren Eskapaden am Tag des Anschlags erzählen. Sie muss sich beeilen, muss ihre Recherchen über den Naziverbrecher Helmut Hepp rasch zu Ende bringen. Morgen früh wird sie weitermachen. Gnadenlos!
Manchmal frühabends, lange bevor die Tablettwägelchen mit den Arzneien über die Fliesen im Flur rappeln und der Bettnachbar seine heiseren Schreie ausstößt, da lichtet sich der Nebel in Valentins Kopf etwas. Bilder, Geräusche, Gefühle gerinnen zu Wörtern, Wörter formen sich zu Gedanken. Heute wieder. Bett, Gitter, Übelkeit, Kopfschmerzen – krank. Krankenhaus? Irrenhaus? Ich bin hier, weil ich krank bin. Verrückt durch die Drogen, die die Entführer mir gespritzt haben. Aber – ich denke, also bin ich, ich denke, also bin ich …
Komisch, dass ihm dieser Satz jetzt einfällt. Den hat mal ein Philosoph so gesagt. Das hatten sie in der Schule. In Religion. Wieso in Religion? Ein Religionsphilosoph oder so. Valentin hat nicht aufgepasst damals, hat durchs Fenster geschaut, einer Schar Spatzen zugesehen, die auf dem asphaltierten Schulhof herumhüpften. Hätte sich lieber hinaus unter die Spatzen begeben, statt zwischen seinen Mitschülern zu hocken, die ihn ablehnten, ignorierten. Und da erzählt der Religionslehrer von diesem Philosophen. Der habe festgestellt, dass man noch so bekloppt sein könne, sich alles Mögliche einbilden könne, wie Schmerzen, Krankheiten, Spatzen auf dem Hof, auch dass niemand einen mag – nur eins könne man sich nicht einbilden: nämlich, dass man ist. Wer denkt, den gibt es. Immerhin.
Die Entdeckung hatte schon damals etwas Tröstendes für Valentin. Das hat sie heute auch. Zumal sich daraus ableiten lässt, dass auch eine Außenwelt an sich keine bloße Einbildung sein kann und dass es einen Zusammenhang geben muss zwischen dem, der denkt und der Außenwelt, die er wahrnimmt … In der Religionsstunde war Valentin völlig verblüfft von dem Spruch, weil der doch dem Zungenbrecher, den er als Kind gern auswendig dahergeplappert hat, widersprochen hat: Denke nie, gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Denke nie, du denkst! Denn wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst, gedacht hast du noch lange nicht.
Was für ein dummer Text! Der Philosoph hat recht: Solange man über das Denken nachdenken kann, ist man kein Vollidiot. Valentin ist kein Vollidiot.
Er atmet auf, rümpft die Nase. Es stinkt. Wie in einem öffentlichen Klo. Nach Kot. Und nach Desinfektionsmitteln. Er hebt den schmerzenden Kopf, betrachtet sein Umfeld, soweit er es ohne Brille betrachten kann. Sein Bettzeug ist vergilbt und fadenscheinig. Von den Gitterstäben platzt Farbe ab. Das alles könnte Valentin sich einbilden. Weil er krank ist. Auch Rolfs Stimme neulich war sicher Einbildung. Oder ein Traum. Erst recht Rolfs liebes Gesicht über seinem Bett. ›Rolf! Rolf!‹
Valentin war vor Wiedersehensfreude ganz aus dem Häuschen geraten, wollte rufen, brachte aber keinen Laut heraus. Rolfs Gesicht war voller Mitleid. Oder war es Entsetzen? Rolf hat etwas gesagt. Etwas, was Valentin nicht verstanden hat. Eine unbekannte Sprache. Und dann verschwand Rolf ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Ein Traum, ein Hirngespinst. Oder ist Rolf auch hier? Auch krank?
Da kommen die Frauen mit den Medikamentenwägelchen durch die Tür. Fangen wie immer bei den Betten auf der gegenüberliegenden Seite an. Vier Betten sind es. In jedem liegt jemand. Oder? Valentin kann es nicht sehen. Dazu müsste er
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