Neben Der Spur
Valentin. Er hat nämlich … eine Mail geschickt.« Sie würgt jedes Wort einzeln heraus, das letzte in Begleitung eines Pfefferminzbonbons gegen schlechten Atem.
»Halten Sie sich links. Dann biegen Sie rechts ab«, sagt das Navigationsgerät.
»Aber … die Mail … ist gar nicht von Vali … glaube ich … manchmal«, fährt Gudrun fort.
»Aha!«, sagt Hans-Bernward, obwohl er nichts verstanden hat. Aber wenn eine Frau weint, besonders, wenn die Frau, die man liebt, weint, dann muss man Verständnis zeigen. Selbst in dem Fall, dass man nichts versteht.
»Biegen Sie rechts ab. Dann biegen sie rechts ab«, sagt das Navigationsgerät. Es hat eine weibliche Stimme. Das ließe sich ändern. Auch wenn diese Maßnahme an den mitunter kryptischen Nachrichten nichts ändern würde.
Gudruns würgende Sprechweise lässt sich aktuell ebenfalls nicht ändern. Dabei sind ihre Worte noch kryptischer als die des Geräts: »Ich glaube … manchmal … er ist entführt worden … vielleicht umgebracht … Und ich bin … schuld …«
Glücklicherweise kennt Hans-Bernward, ebenfalls aufgrund seiner Ehe mit dem ehemaligen Funkenmariechen, die einzig mögliche Antwort auf eine solche Äußerung. Beinahe automatisch kommt sie ihm von den Lippen: »Nein, Gudrun, du bist keinesfalls schuld!«
»Doch!« Sie schluchzt laut auf. Jetzt laufen tatsächlich die Tränen.
Hans-Bernward steuert den Volvo in eine Seitenstraße, hält vor einer Lkw-Einfahrt an und löst seinen Gurt. Nein, er traut sich nicht, Gudrun in den Arm zu nehmen. Er ergreift ihre Hand.
»Erzähl mir alles, es ist kein Drama, wenn wir ein paar Minuten zu spät kommen. Egal, was ist und was Rolf dazu gesagt hat! Ich nehme dich ernst.«
»Ich weiß, deshalb erzähle ich es dir ja.« Das klingt, als habe Gudruns logische Denkfähigkeit wieder eingesetzt.
»Also, dann erkläre mir erst mal: Wie kommst du darauf, dass eine Mail von Valentin nicht von Valentin selbst ist?«
Hans-Bernward wartet geduldig ab, bis Gudrun ihm eine kleine Expertise über sprachstilistische Unterschiede bei Jugendlichen und Erwachsenen vorgetragen hat. Schlägt dann vor, herauszufinden, von wo die Mail abgeschickt wurde. »Hast du sie aufgehoben?«, fragt er.
»Die Polizei braucht dafür eine Art Erlaubnis von der Staatsanwaltschaft. Es genügt nicht, wenn ich ihr meinen Laptop überlasse.«
»Aber ich könnte doch …«
»Kannst du das denn?«
» … einen Bekannten bitten. Der ist ein begnadeter IT-Fachmann.«
»Ein Hacker?«
Hans-Bernward überlegt, ob er seinen früheren Schwager, den Bruder des Funkenmariechens, der seine komplette Freizeit damit verbringt, Daten von Prominenten auszuspähen und an Boulevardzeitungen zu verkaufen, als Hacker bezeichnen soll, und entscheidet sich für ein klares Ja.
»Hmmm …« Gudrun wackelt skeptisch mit dem Kopf.
»Ich werde ihm dein Notebook natürlich nicht einfach so überlassen. Ich werde neben ihm sitzen und ihm genauestens auf die Finger gucken, wenn er die Quelle der Mail entschlüsselt.«
»Gut, ich zahle dem Mann, was er verlangt – und dir natürlich die Überstunden.«
Hans-Bernward schweigt beleidigt.
»Lass mich hier raus, ich geh die paar Schritte bis zum Haupteingang. Hol mich einfach in drei Stunden wieder ab, ja?« Sie trocknet ihre Tränen. Pudert ihre Nase. Zieht ihre Lippen mit einem kolorierten Bienenwachsstift nach. »Sehe ich verheult aus?«
Er betrachtet sie aufmerksam. Die Lider sind rot gerändert, die Wimpern verklebt. Dazwischen glänzen ihre blassblauen Augen wie Mondsteine. »Kein bisschen«, sagt er.
»Und meine Frisur?«
»Perfekt!«
Sie lächelt dünn. »Wenn ich nicht schon so viele graue Haare hätte – spätestens jetzt würden sie mir wachsen.«
Graue Haare? Hans-Bernward erinnert sich so deutlich, als sei es vorhin erst gewesen. »Sie sehen auch mit grauen Haaren sehr hübsch aus«, hat dieser junge Schnösel zur Rosenkranz gesagt. Worauf diese ihn wie verzaubert anblickte – und es schien, als ob einer dieser von Frau Fried beschworenen Engel durch den Raum schwebte.
»Du – ehem – siehst auch mit grauen Haaren wunderschön aus«, sagt er.
Gudrun, den Türgriff schon in der Hand, hält inne, dreht sich zu ihm, lächelt, legt ihm die Hand auf die Schulter, gibt ihm einen Kuss auf die Wange, steigt aus, winkt und geht davon.
Schwebt jetzt ein Engel durch die Straße? Nein. Ein Lasterfahrer hupt, gestikuliert, schneidet zornige Grimassen, weil Hans-Bernward wie benommen hinter dem Steuer
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