Neben Der Spur
Hermann Hepp entweder tatsächlich schizophren. – Oder, und das erscheint Karo wahrscheinlicher: Der Senior hat sich neulich verplappert, weil er die schöne Rosa damals mit einem starken Tabu belegt hatte. Dann wäre Hermann Hepp in Wahrheit Helmut Hepp. Das würde auch erklären, weshalb er sich nicht an die Originalrezepte erinnert – obwohl er sonst alle erdenklichen Details in der Vergangenheit abspinnen kann. Der jüngere Bruder könnte die Identität des Älteren angenommen haben. Des von den Nazis ermordeten Älteren. Um vor den Alliierten abzutauchen, dem Entnazifizierungsprogramm zu entgehen. Und Karo wäre ihm heute, mehr als sechzig Jahre danach, auf die Spur gekommen. Wahnsinn!
Im Fernsehen bringen sie immerzu Dokumentarfilme über das Kriegsende. Zerbombte Städte, verkrüppelte Soldaten, Flüchtlingstrecks … Kriegsgefangene … Kriegsheimkehrer. Heute Abend wieder, im Spätprogramm. Das Fräulein Karola hat gefragt, ob ich mir den Film nicht anschauen will. Ich hätte, glaubt sie, in meinem Spital in der Schweiz nicht viel mitbekommen vom Kriegsende. Und es müsste mich doch interessieren, wie meine Verwandten und Freunde diese Zeit erlebt hätten.
Sie ist ein gutes Kind, hat Mitgefühl für andere Menschen. Dabei ist sie temperamentvoll und sehr, sehr wissbegierig. Wie deine Rosa, Hermann, wie deine Rosa.
Ich habe ihr geantwortet, dass ich immer zeitig schlafen gehe, deshalb den Film nicht sehen kann. Sie wollte ihn mir im Internet zeigen, weil, was im Fernsehen lief, hinterher auch im Internet ist. Ich habe geantwortet, dass ich Internet nicht mag. Das hat sie nicht verstanden, glaube ich.
»Lassen Sie die Toten ruhen, Fräulein Karola«, sage ich immer, wenn sie mich ausfragen will über Faschismus und Krieg, über das Euthanasieprogramm, den Holocaust. Dann nehme ich ihre kleine Hand und lächle. Sie soll mich nicht leiden sehen, soll nicht wissen, dass das Hebbel-Zitat anders lautet – ganz anders lautet: Lassen wir die Toten ruhen, die uns nimmer ruhen lassen; meine Brust ist ein Sarg, ich lege das teure Bild hinein und schraube ihn niemals wieder auf.
Meine Brust ist auch so ein Sarg. Ein Sarg für dich, Hermann. Für uns beide. Sie sollen uns ruhen lassen – beide ruhen lassen.
Mittwoch. Karo hat sich freigenommen. Den Vormittag nutzt sie zu einem Besuch beim Tagblatt, denn die drei Wochen auf der Strafbank sind um. Und jetzt wundern sich alle, dass Karo eine Verlängerung ihrer Auszeit will. »Eine Art Sabbatical«, so hat sie es vorab per Mail angekündigt.
Lokalchef Löffler erwartet sie mit gefalteten Händen und dem gewohnten Dackelblick. »Aber Sie planen wiederzukommen, ja?«
»Klar«, sagt Karo.
»Und wann? September?«
»Eher Mitte September.«
Der Löffler macht sich eine Notiz. »Na gut. – Sie werden ganz schön vermisst, wissen Sie das?«
Karo gibt sich gleichmütig, zuckt die Achseln und studiert ihre Fingernägel. In Wahrheit vermisst sie ihren Job selbst. Musste sich eben noch angesichts eines nasepopelnden Schülerpraktikanten an ihrem Platz ein paar Tränen verkneifen. Und auf dem Flur kam Nanette angestürmt, fiel Karo um den Hals. »Ach, Mädelchen, wo bist du bloß abgeblieben? Bin plötzlich so einsam hier.«
»Das können Sie mir ruhig glauben, Karo!« Die Dackelaugen strahlen. »Sogar Alex hat angekündigt, mit Ihnen Frieden schließen zu wollen.«
Dann fress ich einen Hochdruckreiniger, denkt Karo, versichert aber mit treuherzigem Augenaufschlag, dass sie sich ihrerseits große Mühe geben wird, gut mit Alex auszukommen. Heißt es nicht in Regel Nummer dreizehn ihres Karriereratgebers: Wenn Sie Ihren Kontrahenten nicht übertrumpfen können, umarmen Sie ihn! Beschwichtigen Sie seinen Ehrgeiz! So bekommen Sie Ihre eigene Chance vielleicht umso früher.
»Und Sie wollen uns nicht verraten, was Sie derzeit treiben?« Der Löffler neigt den Kopf, schaut ihr von unten herauf direkt in die Augen.
»Nöö«, sagt Karo und setzt ihr Pokerface auf. Klar könnte sie – Kopf hoch, Brust raus – sagen, dass sie für den Webauftritt der Firma Hepp textet. Sogar auf die Gefahr hin, dass jemand aus der Redaktion den Hepps steckt, was Karo am Tag des Anschlags im Wohnhaus der Familie getrieben hat. Eine Entlassung ist inzwischen eher unwahrscheinlich. Bestimmt würde der Senior sich persönlich für sie ins Zeug legen, ohne jede Ahnung davon, dass sie im Begriff ist, seine dunkelbraune Vergangenheit bloßzulegen.
Andererseits wäre es einigermaßen
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