Nebenan: Roman
ein Knecht gekommen war, um Pferde anzuspannen.
Die Finger des Erlkönigs krallten sich in den zähen Stoff der Rückbank. Offenbar hatte sich doch mehr geändert, als gut war, dachte er nicht zum letzten Mal in dieser Nacht.
3
Wallerich war todmüde. Die ganze Nacht hatte er vor den Computerschirmen im Hauptüberwachungsraum verbracht und nichts war passiert! Wie üblich hatte es auf der anderen Seite einige Versuche der Dunklen gegeben, die Tore in Nebenan zu stürmen, und wie in jedem Jahr waren sie von den Zwergenvölkern und ihren Verbündeten zurückgeschlagen worden. An keinem der irdischen Übergänge zur Anderswelt war es zu Anomalien gekommen.
Als der Heinzelmann bei Nöhrgel eintrat, gähnte er erst einmal demonstrativ. »Keine besonderen Vorkommnisse, Sir.« Er wusste, dass der Älteste diese militärisch knappe Art von Berichterstattung nicht mochte, sondern lieber in aller Ruhe bei einer Tasse Espresso plauderte, doch Wallerich war nach der langen Nacht nicht in der Stimmung für Höflichkeiten.
Erstaunlicherweise ignorierte Nöhrgel die Provokation. Ein schlechtes Zeichen! Der Älteste saß auf einem hochlehnigen Bürostuhl vor dem Wahrscheinlichkeitskalkulator und drehte nachdenklich an einer der langen Locken seines Bartes. »Ich habe meinen Hauptrechner heute Morgen mit allen Daten über die Angriffe auf die Tore von Nebenan gefüttert. Das Ergebnis ist beunruhigend. Verglichen mit den Statistiken der letzten siebenundzwanzig Jahre haben die Dunklen sich wesentlich weniger Mühe gegeben, eines der Tore zu erobern.«
Wallerich zuckte mit den Schultern. »Warum sollten nicht auch Vampire und Werwölfe mit der Zeit dazulernen? Es ist doch mehr als hundertfünfzig Jahre her, dass wir die letzten Dunklen nach Nebenan verbannt und die Tore für sie verschlossen haben. Seitdem kommt es in jedem Jahr zu Samhaim zu Angriffen auf die Portale. Und in jedem Jahr haben wir sie zurückgeschlagen. Es ist doch völlig logisch, dass da irgendwann der Enthusiasmus ein wenig nachlässt!«
Nöhrgel lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und faltete die Hände über seinen kleinen, kugeligen Bauch. »So würde ein vernünftiger Heinzelmann denken und ich glaube, man könnte das auch von allen anderen Angehörigen der Zwergenvölker sagen. Aber die Dunklen sind anders als wir. Wie viele Geschichten kennst du, in denen zum Beispiel der Vampir am Ende gesiegt hat?«
»Ich bin kein Literaturwissenschaftler«, entgegnete Wallerich gereizt. Er wollte endlich ins Bett und verspürte nicht die geringste Lust dazu, mit dem Alten über seine Hirngespinste zu diskutieren.
»Selbst wenn du einer wärst, könntest du mir wohl kaum eine nennen«, sagte Nöhrgel ruhig. »Und genau das ist der Grund, warum die Dunklen sich niemals entmutigen lassen werden. Sie sind es gewöhnt, zu verlieren! Deshalb beunruhigen mich die Ereignisse der letzten Nacht. Sie müssen irgendeinen anderen Plan haben. Sie haben die Angriffe letzte Nacht nur durchgeführt, damit wir denken, alles laufe wie immer. Das passt auch zu der Information, dass sich unter den Dunklen eine Art Geheimbund formiert hat. Leider ist es bisher keinem unserer Spitzel in Nebenan gelungen, in diesen Bund einzudringen … Ich habe jedenfalls für heute Abend eine Versammlung des Rates einberufen, um mit ihm unser weiteres Vorgehen abzustimmen.«
»Und das alles, weil die Dunklen letzte Nacht nach hundertfünfzig Niederlagen etwas schneller aufgegeben haben als sonst? Könnte es sein, dass dir der Wahrscheinlichkeitskalkulator diesen Floh ins Ohr gesetzt hat?«
»Darf ich dich daran erinnern, dass die Zwergenvölker ihre überlegene Stellung dem innovativen Umgang mit Technik verdanken? Und was deine Frage angeht: Ja, ich habe den Rechner befragt, schon fünfmal heute Morgen. Und seine Prognose fällt stündlich schlechter aus.«
Der Alte wird täglich sturer, dachte Wallerich traurig. Früher hätte er den Rechner nach so einem Flop wie am Vortag einfach auf den Müll geworfen. Für einen Augenblick fragte er sich, ob er auch so sein würde, wenn er seinen fünfhundertsten Geburtstag hinter sich hatte. Dann lächelte er. Sich mit Nöhrgel zu vergleichen war einfach nur einfältig.
»Was gibt’s zu grinsen?«, fragte der Älteste ungehalten. »Amüsiert es dich, dass wir in Gefahr sind?«
»Warum vertraust du diesem dämlichen Rechner und nicht den Berichten, die wir von Nebenan bekommen haben?«
»Ich habe mehr als fünf Jahre an ihm gearbeitet. Hast du schon
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