Nebenweit (German Edition)
Für mich freilich war an Schlaf nicht mehr zu denken, obwohl mir ein Blick auf den Wecker verriet, dass es erst fünf Uhr war. Ich stieg aus dem Bett, schlüpfte leise in meinen Morgenmantel und schlurfte im Dunkeln in Pantoffeln in mein Arbeitszimmer, ließ mich dort in den Schreibtischsessel fallen und knipste die Tischlampe an.
Schon wieder so ein Traum – der dritte jetzt, oder war es der vierte? –, der mich in eine Anderwelt entführt hatte. Ich träumte auch sonst manchmal, aber das waren immer die üblichen Träume, in denen das Gehirn Geschehnisse oder Ängste des Alltags verarbeitet, Träume von bevorstehenden Prüfungen, auf die ich nicht vorbereitet war, von versäumten Flügen oder irgendwelchen Banalitäten. Aber in diesen Träumen war ich immer in irgendeiner Weise mit anderen Menschen aktiv, meist solchen aus unserem Bekanntenkreis, kommunizierte mit ihnen, während all die Träume, die sich mit den Anderwelten beschäftigen, rein passiver Natur gewesen waren, Träume, in denen ich Lauscher oder Beobachter war. Aber dafür waren es Träume von kristallklarem Detailreichtum gewesen: die Uniform mit den roten Generalsstreifen, der Hakenkreuzstander auf dem Kotflügel des schweren Mercedes, die lang gestreckten Blockhäuser in Duponts Heimatwelt, die vielen Bücher in der Bibliothek, die Landkarte mit den darauf eingezeichneten Flussläufen und Bergketten.
Dupont hatte von einem kleinen Mädchen erzählt, das als Erste Kontakt mit unserer Welt aufgenommen hatte, zuerst in Träumen, die immer wirklichkeitsnäher wurden, und schließlich, indem es körperlich in unsere Welt versetzt wurde. Mir war, als könnte ich Duponts Stimme hören, wie er diesen Satz gesagt hatte, damals im ›Franziskaner‹, als wir uns zum ersten Mal gegenübergesessen hatten.
Ich versuchte, mich zu erinnern, was er sonst noch von dem Mädchen erzählt hatte, aber da war kein Hinweis darauf gewesen, wie aus den Träumen schließlich Realität geworden war, der ›Rutsch‹, wie Dupont das nannte, aber mir wollte nichts einfallen. So saß ich im Halbdunkel da, starrte in den warmen Lichtkreis, den die Lampe auf die Tischplatte warf, und versuchte mich auf das Erlebte/Geträumte zu konzentrieren. Der Schluss, dass es sich bei dem entkommenen Gefangenen, von dem die beiden Männer gesprochen hatten, um Mortimer handelte, lag nahe; vielleicht ebenso nahe wie die Burgfestung in jener anderen Welt, vielleicht nur millimeterweit entfernt und doch unerreichbar – zumindest wenn man nicht gelernt hatte, wie man rutscht.
Gelernt!, schoss mir durch den Kopf. Die Gäler wurden zwar mit dieser Fähigkeit geboren – behauptete Dupont –, mussten aber doch üben, um damit umgehen zu können. Ich rief mir die Szene im Untergeschoss von Duponts Krankenhaus ins Gedächtnis, sah den jungen Mann vor dem Bildschirm vor mir, sein plötzliches Verschwinden und Wiederauftauchen. Ich presste die Hände gegen die Stirn, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und drückte die Daumen so fest gegen meine Backenknochen, dass es wehtat. Dupont behauptete steif und fest, dass nur die Angehörigen seines Volkes diese Fähigkeit besaßen. Aber stimmte das auch?
Dagegen sprach nicht nur die Tatsache, dass ich, den eigenen mit eingerechnet, jetzt schon vier Fälle kannte, deren Auftauchen in dieser Welt Duponts Behauptung widerlegten. Und wenn sich die Fähigkeit vererbte, was ja offensichtlich der Fall war … Zudem hatte ja Dupont selbst gesagt, dass viele seiner Landsleute im Laufe der letzten zweihundert Jahre desertiert waren. Das konnte doch dazu geführt haben, dass sich das ›Rutsch‹-Gen auch in der Gastgeberbevölkerung ausgebreitet hatte. Dazu bedurfte es nicht einmal der Desertion, vermutlich blieben ja die Gäler in anderen Welten nicht ständig unter sich.
Ob sich meine Versetzung in diese Welt neben der von Dupont behaupteten Kollision vielleicht auch auf ein Techtelmechtel eines Gälers mit einem meiner Vorfahren im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert zurückführen ließ? Oder sogar auf eine ganz normale Ehe?
Fragen über Fragen, auf die niemand mir Antwort geben konnte – und dazu die Sorge, jeden Augenblick könne ein Einsatzkommando aus der Germaniawelt auftauchen und mich verschleppen, wie es dem armen Teufel Mortimer ja passiert war. Um den würde ich mich morgen kümmern, nein heute, es war ja schon fünf, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich ihm eigentlich helfen sollte. Ihm die Theorie der Parallelwelten
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