Necroman
blieb weiterhin in seinem Sessel hocken wie ein skelettierter Philosoph, der über das Elend der gesamten Welt nachdachte.
Die Finger schwebten ihm entgegen. Der laute Atem des Jungen ebenfalls, und dann fasste er zu. Er legte seine Hand um den Körper des Skeletts, ohne allerdings hart zuzudrücken, aus Furcht davor, die manchmal filigranen Knochen zu zerbrechen. Er spürte auch den rauhen Stoff des Umhangs an seiner Haut, dann hob er die Figur an.
Der linke Arm, der dem Kopf bisher eine Stütze gegeben hatte, sackte nach unten, traf die Sessellehne, doch er zersplitterte nicht. Tim hob die Figur weiter an. Sie schwebte bereits über dem Sessel und über die Köpfe der anderen hinweg, und auch an den Figuren vorbei holte er Necroman zu sich.
Vor der Kiste blieb er knien. In der Hand hielt er seine Puppe. Tims Mund zuckte. Er spürte in der Kehle das leichte Würgen, denn der verdammte Gestank war nicht verschwunden. Jetzt, wo er Necroman in der Hand hielt, war er noch intensiver geworden. Begreifen konnte er es nicht, denn nie zuvor hatte die Puppe eine derartige Ausdünstung von sich gegeben. Sie widerte ihn an, trotzdem stellte er sie nicht zurück, sondern nahm sie mit.
Tim war aufgestanden. Er ging auf seinen Schreibtisch zu, wo er die Puppe abstellte. Sie blieb sogar auf den Knochenfüßen stehen, nachdem er die Beine gerichtet hatte.
Etwas war trotzdem anders gewesen oder geworden und hatte ihn auch gestört. Es ging natürlich um die mittelalterliche Abbildung des Todes, aber es ging hier auch um mehr.
Er schaute es an. Necroman sah aus wie immer. Auch aus der Nähe hatte sich nichts verändert. Trotzdem fühlte er sich gestört, und Tim fasste noch einmal hin. Diesmal etwas fester, und dabei schob er seine Finger auch unter den Umhang, damit er Hautkontakt mit dem Gebein bekam.
Gebein? Der Junge erschrak tief, als hätte ihn ein Schlag erwischt.
Fühlte sich so Gebein an? Nein. Es war nicht mehr so hart, war weicher geworden oder aufgeweicht. Wenn er etwas Druck ausübte, konnte er die Figur zusammenpressen wie Knetgummi.
Also hatte er sich nicht geirrt, und Tim Baker hielt entsetzt den Atem an.
Mit dieser neuen Entwicklung kam er einfach nicht zurecht. Er fand keine Erklärung für die Umwandlung dieses Materials. Für ihn war es ein Rätsel, und er ließ die Puppe so hastig los, dass sie abrutschte und dabei umkippte.
Vor dem Bildschirm des Computers blieb sie liegen. Die leeren Augenhöhlen in die Höhe gerichtet, als wollte sie auf dem blassen Monitor etwas Bestimmtes entdecken.
Tim kam nicht mehr zurecht. Er war nervös. Er konnte die Hände nicht mehr ruhig halten, und er fuhr einige Male über sein Gesicht, ohne jedoch seine Furcht und Bedrückung loswerden zu können. In seiner Kehle hatte sich etwas verengt. Er schluckte. Der Speichel schmeckte bitter, und seine Angst wollte nicht weichen.
Plötzlich schoss ein schrecklicher Gedanke in ihm hoch. War es vielleicht möglich, dass dieses Skelett, das ja tot sein musste, auf einmal anfing zu leben, weil er sich verändert hatte? War aus der toten Puppe eine lebende geworden?
Tim hatte sich so heftig erschreckt, dass er mit seinem Stuhl zurückrollte, als wollte er den Necroman nicht mehr aus unmittelbarer Nähe sehen.
Aber das brachte auch nichts. Es gab diese veränderte Figur, und sie ließ sich einfach nicht wegdiskutieren.
Wieder holte er unkontrolliert Atem und musste erst einmal mit sich ins Reine kommen. Nein, das war nicht möglich. Nicht in dieser Nacht, wo sich soviel verändert hatte. Im ging alles quer. Er schüttelte sich, er schluckte, er dachte daran, mit welchen Gefühlen er zu kämpfen hatte, und er beobachtete die Puppe aus einer sicheren Entfernung.
So vergingen zwei, drei Minuten, in denen nichts geschah. Weder der Junge noch die Knochenpuppe rührten sich. Tim kam es vor, als würden sie sich gegenseitig belauern.
Schließlich hatte er sich überwunden und stand auf. »Ich bin kein Feigling!« machte er sich selbst Mut. »Ich bin jemand, der Gruselpuppen sammelt und sich vor ihnen nicht fürchtet. Ich habe keine Angst vor Frankenstein, auch nicht vor Dracula oder irgendwelchen Zombies. Es sind Puppen, keine lebenden Monstren.« Er wiederholte den letzten Teil.
»Es sind keine lebenden Monstren…«
Seine Stimme hatte bei der Wiederholung an Sicherheit verloren. Die letzten Worte waren einfach in der Kehle steckengeblieben, sie waren versackt. Das Blut war ihm in den Kopf gestiegen. Er spürte den Druck hinter
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