Necroscope 8: BLUTFÜRSTEN (German Edition)
(vielleicht hatte er auch ihre Gedanken gelesen), erklärte er:
»Dieser Wind weht von den Eislanden her. Wenn sich in den alten Zeiten ein Vampir-Lord etwas zu Schulden kommen ließ, kam es mitunter vor, dass die anderen ihn in den Norden verbannten. Es gab verschiedene Formen der Bestrafung für solche abtrünnigen Lords: die Verbannung in den Norden und damit wohl die Verurteilung zu einem langsamen Tod durch Erfrieren; sie konnten aber auch bei lebendigem Leib weit draußen in der Findlingsebene begraben werden. Oder man warf sie in das Tor zu den Höllenlanden, von wo niemand je zurückgekehrt ist. Nun ja, jedenfalls nicht bis jetzt.«
Die sieben hatten Nathans Waffen aufgenommen. Als er sie von der Halbkugel aus weißem Licht wegführte, hielt er einen Moment inne, um Richtung Osten und leicht nördlich zu deuten. Nun, wo das schmerzhafte Gleißen des Tores hinter ihnen lag und ihre Augen sich an die unnatürliche Düsternis der Sternseite gewöhnt hatten, zeichnete sich die Findlingsebene umso deutlicher vor ihnen ab. Und dort, nordöstlich des Tores, bot die öde Geröllebene – und was weit verstreut darauf lag oder stand – den surrealsten Anblick von allem, was ihnen bisher begegnet war.
Die Findlingsebene war ebendas, was ihr Name bedeutete – eine scheinbar endlose Fläche, die sich vom Grenzgebirge bis zum nördlichen Horizont unter seiner schimmernden Kuppel zuckender Polarlichter erstreckte. Vielleicht handelte es sich um den Grund eines in grauer Vorzeit versiegten Ozeans, ähnlich den fälschlicherweise mares genannten Ebenen auf dem Mond. Doch vor dem gleißenden Glanz des Tores zeichneten sich überall, wie willkürlich in das Bett eines ausgetrockneten Sees geworfene Erdklumpen, die Umrisse von Gesteinshaufen und einzelnen Felsen ab, die, ausgehend von dem zentralen Lichtpunkt, in konzentrischen Kreisen ihre Schatten warfen. Ein gutes Stück vom Tor entfernt wirkten sie wie unheimliche weiße Wachtposten, und noch ein Stück weiter weg wie graue Gespenster, die allmählich mit dem düsteren Blau des Himmels verschmolzen.
Zu den merkwürdigsten Formen verwittert, hatten die Felsblöcke das Aussehen von Dämonenfratzen, so surreal, dass man den Eindruck gewann, ein Gemälde Salvador Dalís zu betrachten.
Das Einzige, was zu fehlen schien, war ein Brennpunkt, ein irgendwie gestalteter Mittelpunkt oder eine Struktur, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und das Auge des Betrachters von der Eintönigkeit ringsum ablenken konnte. Und tatsächlich gab es weit draußen, etwa dreizehn bis fünfzehn Kilometer weit im Osten und drei bis fünf Kilometer zum Norden hin, einen solch auffälligen Punkt.
Selbst auf diese Entfernung konnten die sieben eine Anzahl gedrungener von Nebelschwaden umwaberter Säulen ausmachen, ähnlich einem gigantischen Stonehenge, die sich – wie die Stümpfe eines riesigen versteinerten Pilzkreises oder die mächtigen Sockel zyklopenhafter Statuen – zwischen gewaltigen Geröllhaufen und Steintrümmern erhoben. Und hinabgestürzt auf diese fremde Erde, halb begraben im gespaltenen Grund, bildeten die zerschmetterten Körper all der gefallenen Götter regelrechte Grabhügel oder waren als weit vorragende Schutthaufen rings um die Sockel der nackten Stümpfe verstreut.
Doch inmitten dieses vorsintflutlichen Steinwaldes war, unbeschadet von Naturgewalten oder menschlichem – oder auch unmenschlichem – Einwirken, ein mächtiger Felsenturm stehen geblieben, die letzte große Feste der Wamphyri! »Die Karenhöhe«, flüsterte Nathan voller Ehrfurcht vor der beeindruckenden Felsnadel. »Oder wie auch immer sie sie jetzt nennen mögen.«
Trask und die anderen blickten mit, wenn auch morbider, Faszination über all die nebelverhangenen Meilen hinweg zu jenem einsamen kilometerhohen Felsen hin, der dort im Osten noch immer Wache hielt – zwischen den Trümmern der geschleiften Felsenburgen, die Harry Keogh über der Findlingsebene zum Einsturz gebracht hatte. Und Trask, Chung und Anna Marie fragten sich: Aber wenn dies der letzte Felsenturm sein soll – und bei Weitem nicht mal der größte –, wie muss es dann wohl ausgesehen haben, als die ganzen Türme noch standen? Und all ihre Bewohner noch am Leben ... beziehungsweise untot waren?
Trask vermochte den Blick nicht von jenem fremdartigen Turm abzuwenden, der wie ein Wolkenkratzer in die Höhe ragte, sodass er über einen kleinen Felsbrocken stolperte, als Nathan sie noch ein Stück weiter vom Gleißen des Tores
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