Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
Sonne aufgehen und ihre Silhouette weichzeichnen. Der Duft nach Seife und Rosenblüten, den sie verströmte, die liebliche Wärme ihres Seufzens ... Viel zu früh war sie gestorben, von der Hand eines Wahnsinnigen, dessen Leben wiederum Harry ein Ende bereitet hatte.
Dies war jedes Mal der Punkt, an dem die traurigen, melancholischen Träume des Necroscopen sich in ein rachsüchtiges Rot färbten. Denn nach Viktor Shukshin waren Thibor Ferenczy, Dragosani, Julian Bodescu, Theo Dolgikh, Ivan Gerenko und viele andere gekommen. Es war eine lange Liste. Ganz zu schweigen von Faethor Ferenczy, dem »Stammvater« oder vielmehr Urahn aller Vampire? Faethor war nun zwar schon seit Langem tot ... aber auch Thibor war tot gewesen! Selbst ein Vampir, der tot und begraben war, stellte immer noch eine Bedrohung dar. Harry hatte noch immer keine hundertprozentige Gewissheit, dass der alte Ferenczy nicht irgendwo weitere Leichenreste, potentielle Wiedergänger, in der Erde zurückgelassen hatte, wo sie vor sich hin schwären konnten wie Thibor und nur darauf warteten, mit Pauken und Trompeten zurückzukehren ...
Durchsetzt von seinen Ängsten und Befürchtungen, wurde der Traum des Necroscopen schon bald zu einem wirren Durcheinander. Sein Geist gehörte zwar Harry Keogh, doch das Gehirn, in dem dieser sich befand, hatte einst Alec Kyle gehört, einem Hellseher des E-Dezernats. Harrys Empfindungen – seine Gedanken, Erinnerungen und Gefühle – waren nun in den verschlungenen Windungen von Kyles Großhirn untergebracht, in dem es immer noch die ein oder andere Nische gab, die nicht ganz mit Harrys Profil übereinstimmte. Die »Ausformung« dieses Gehirns hatte Kyles merkwürdiges Talent entscheidend geprägt. Seine flüchtigen Blicke in die Zukunft hatte er stets in jener vagen, verworrenen Phase zwischen Traum und Erwachen erhascht, an dem Punkt, an dem Bewusstsein und Unterbewusstsein sich voneinander trennen und es dem Träumenden gestatten, wieder zurück in die Wirklichkeit zu finden. Von Alec Kyle war nichts geblieben, doch sein Gehirn hatte die alte Gestalt noch nicht zur Gänze verloren, und vielleicht hatte irgendwo ein winziger Teil seines Talents überlebt.
Denn jedes Mal, wenn Harry kurz vor dem Erwachen stand, vollzog sich mit seinen Traumgesichten eine Verwandlung, und rasend schnell wurden sie zum reinsten Albtraum. Und da es sich beim Hellsehen um die zweifelhafte Kunst, in die Zukunft zu blicken, handelt – und die Zukunft eben kein Traum ist, sondern eine Abfolge bislang noch nicht verwirklichter Ereignisse –, kam dem Necroscopen alles, was er in diesem Stadium erlebte, wie die Realität vor. Der Unterschied zwischen diesen beiden Traumzuständen war ... wie ein Schock! Den meisten Menschen ist durchaus »bewusst«, dass sie bloß träumen. In der Regel ging es auch Harry so. Doch in diesem Fall war es anders.
Wie zuvor handelte es sich um eine bunte Folge von Szenen, die schnell an ihm vorüberglitten, ohne dass er die Kontrolle darüber hätte. Doch hatte er bislang angenommen, er sei einige Seltsamkeiten gewohnt ...
Er stand an einem Ort, der nicht von dieser Welt war, am Rand einer ausgetrockneten Geröllebene, die sich zur einen Seite bis hin zu einem vom Flackern des Nordlichts erhellten Horizont erstreckte, auf der anderen allmählich in Hügelland überging, das zu einem steilen Gebirgszug anstieg. Ganz in der Nähe erhob sich eine gewaltige leuchtende Halbkugel aus einem von einem niedrigen Erdwall umgebenen Krater wie das Auge eines gefallenen Zyklopen, dessen Schädel in der Erde versunken war. Sie verströmte ein kaltes, weißes Licht, sodass die Kuppel wie ein Leuchtturm wirkte – doch für welch sonderbare Art von Reisenden? Hoch über ihm jagte der Mond über den Himmel. Eine Hälfte erstrahlte, von einer unsichtbaren Sonne beschienen, golden, die andere schimmerte bläulich im Glanz der Sterne. Wegen seiner merkwürdigen Rotation und der exzentrischen Umlaufbahn schien sich das Muster auf seiner Oberfläche ständig zu verändern.
Harry klammerte sich an das, was ihm über die geographische Beschaffenheit seiner eigenen Welt bekannt war. Sein Instinkt sagte ihm, dass das Nordlicht demnach im Norden liegen musste. Das war sonderbar, denn es bedeutete, dass die unsichtbare Sonne weit im Süden jenseits der Berge stand. Allerdings war dies eine fremde Welt ...
... Jemand hatte ihn hierher geschickt ... und zwar ... Faethor?
Hier geriet sein Gedankengang ins Stocken. Einen Blick in die
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