Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
Menschen so gut wie nur möglich zu gestalten. Natürlich war es denkbar, dass er übertrieb – ihre Unterhaltung war schließlich viel zu kurz gewesen, um das wirklich beurteilen zu können –, aber er erlaubte sich gedanklich eine kleine Reise, auf der er vieles hinter sich ließ: die nationalen und persönlichen Machtspiele, die mehr oder weniger sichtbare Korruption, den Lobbyismus, die Intrigen, Steuerhinterziehungen und Budgetkämpfe. Und er spürte, wie er sich dem Kern dessen näherte, was Politik eigentlich sein sollte: die Gestaltung einer gerechten und tragfähigen Gesellschaft. Mehr war es nicht.
Er lachte in sich hinein und sah hinüber zu Kerstin Holm. Ihre Blicke trafen sich. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass es ihr ähnlich erging. Er sah das in ihren überraschend konzentrierten Gesichtszügen. Sie prosteten sich zu, und ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. Mit einem leichten Nicken deutete sie nach rechts, und Hjelm konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sein Blick auf Maltas Polizeichef fiel, der mit geschlossenen Augen und mit einem gefährlich schwankenden Weinglas in der Hand neben Kerstin Holm auf seinem Stuhl hing. Während Hjelm sich nun seiner Nachbarin, der slowakischen Oberstaatsanwältin, zuwandte, sah er aus dem Augenwinkel, dass Kerstin sich über den Tisch beugte und Marianne Barrière ansprach. Sie wechselten ein paar Worte, die er nicht verstehen konnte. Und das war auch gut so.
Dann wurde das Hauptgericht serviert, und das Festmahl nahm unter zunehmendem Gemurmel und Geraune seinen Gang. Aus dem Schlosshof drang in Abständen der ein oder andere schrille mittelalterliche Ton zu ihnen hoch, während die weiß gekalkten Wände des Muiderslot immer feuchter wurden, je länger der Abend andauerte. Durch den Atem der Anwesenden.
Kerstin Holm hatte zum Schluss ihren Tischherrn aufgegeben und sich wie ihr Lebensgefährte in eine neue Unterhaltung gestürzt. Als der letzte Fingerbreit Rotwein sich mit dem beeindruckenden Hauptgericht vereinte – unzweifelhaft wurde auch hier das Mittelalterthema beibehalten, es gab ein undefinierbares, aber makellos zartes Stück Fleisch, das über dem offenen Feuer gegrillt worden war –, beugte sich Kerstin Holm vor und sagte mit einer Handbewegung in den Wapenzaal: »Wir hatten letztes Jahr einen großen Fall, und da wurde mir eine Sache klar. Die Zivilisation kämpft unentwegt gegen das sogenannte Mittelalter. In unserer Gesellschaft existieren Parallelgesellschaften, die glasklar den Wertekonzepten der dunklen Jahre, dem finstersten Mittelalter verschrieben sind. In diese Welten sind weder die Renaissance noch die Aufklärung vorgedrungen.«
»Das ist sehr wahr«, erwiderte Marianne Barrière und nahm einen kräftigen Schluck. »Gleichzeitig hat diese Welt aber auch etwas extrem Verführerisches. Etwas Basales. Ursprüngliches. Elementares. Die Frage ist nur, wie kommen wir zurück zu den Grundfesten der modernen Zivilisation, ohne uns unterwegs im Barbarischen zu verstricken? Sowohl die Welt der Gangster als auch die der Gangs und Fanatiker haben das gemeinsam. Alles ist wichtig. Man verteidigt die absolute Wahrheit. Es geht immer um Leben und Tod. Es existieren weder Ironie noch Sarkasmus oder Humor. Da stehen ganz fundamentale Werte auf dem Spiel. Aber die Methoden sind so grotesk. Sie haben vollkommen recht, diese Welt ist weit von der Aufklärung entfernt. Und wenn es Humor gibt, ist er gewalttätig. Mobbinghumor. Mittelalter.«
Nun mischte sich Paul Hjelm in das Gespräch: »Verhält es sich nicht sogar folgendermaßen: Der Superindividualismus im Neoliberalismus hat ein akutes Bedürfnis nach Gemeinschaft erzeugt, gerade weil dessen Sieg sich darauf gründet, dass alle Volksbewegungen – sein Hauptfeind – ausgerottet werden müssen, am besten von innen zersetzt. Es ist gelungen, alle Gemeinschaften der Sozialdemokratie zu vernichten, die Einsamkeit der Habgier hat gesiegt, und dadurch war der Weg frei für die falschen Gemeinschaften, wie sie der Rassismus, der Fanatismus und die Mafia anbieten.«
»Ganz genau«, sagte Barrière, »ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Auch die Neoliberalen haben begonnen, Gemeinschaften zu bilden. Und man ist sogar zu der Erkenntnis gekommen, dass es ein Bedürfnis nach stimmberechtigten Gemeinschaften gibt, das über Wohltätigkeitsvereine und Zusammenschlüsse Gleichgesinnter in der Oberklasse hinausreicht. Aber wir reden hier nicht von einer Gesellschaft – die hat
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