Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
Gerechtigkeitsempfinden haben. Wir spüren sofort, ob unser Tun moralisch verwerflich ist oder nicht. Wir verfügen über einen inneren moralischen Kompass, sonst hätte die menschliche Rasse nicht so lange überlebt. Und den gibt es nach wie vor, vielleicht ist er präsenter denn je. Wir bemerken unsere Fehler instinktiv. Das Problem ist nur, dass wir alle in den vergangenen zwanzig Jahren gelernt haben, mit diesem Gefühl zu leben. Um unsere eigene, zunehmend bizarrer werdende Privatwirtschaft gut aufzustellen – den Hypothekenzins, die Wahl des Stromanbieters und die Rente –, sind wir bereit, unser Gewissen quasi auf null zu drehen. So überlebt man die Erkenntnis, dass man zur Ungerechtigkeit auf dieser Erde beiträgt. Aber das macht man nicht ungestraft. Wir leben in einer Zeit, die immer mehr Psychopathen hervorbringt – unsere Gesellschaft belohnt Rücksichtslosigkeit. Aber die meisten sind dafür nicht geschaffen. Und die werden früher oder später den Dolchstoß ihres Gewissens zu spüren bekommen, davon bin ich überzeugt.«
»Das klingt, als würden Sie an einer flammenden Rede schreiben«, sagte Hjelm.
»Lieber Paul Hjelm, Sie müssen Ihren Detektivsinn auch einmal zur Ruhe kommen lassen«, entgegnete Marianne Barrière und lachte schallend.
»Das hatte ich. Aber Sie haben ihn soeben wieder aktiviert.«
»Niemand versteht, worum es in der Politik geht, weil die Gesellschaft an sich nicht existiert. Es existiert kein Gefühl für eine echte Gemeinschaft, die den Einzelnen einbezieht. Und dies führt eben zur Entstehung von falschen, andere ausschließenden Gemeinschaften. Die politische Korruption in Europa ist enorm, auch innerhalb der EU. Die Lobbyisten kaufen die Politiker. Es herrschen hier bald Zustände wie in den USA. Jemand muss sich erheben und politischen Anstand einfordern. Ach, verzeihen Sie mein Gefasel, das ist der Wein, der spricht.«
»Wenn das so ist, darf der Wein gerne eine Rede halten«, sagte Kerstin Holm. »Aber wie bekommt man die Menschen dazu, einem zuzuhören? Gegen das permanente mediale Rauschen?«
Zu ihrer großen Überraschung wurde in diesem Moment ein zweites Hauptgericht aufgetragen: frittierte Barschfilets aus dem IJsselmeer, die in grotesken Stellungen drapiert waren. Dazu gab es selbstverständlich noch mehr Wein.
Nachdem sie an dem neuen Wein genippt hatte, antwortete die mittlerweile ein bisschen beschwipste EU-Kommissarin. »Es könnte sein, dass ich tatsächlich einen Weg gefunden habe.«
Sie schwiegen, während die Süßwasserbarsche in ihren unterschiedlichsten, scheinbar mittelalterlichen Posen serviert wurden.
»Und hören Sie bloß auf, mich mit Ihrem detektivischen Grüblerblick zu mustern«, setzte Marianne Barrière hinzu.
»Aber Sie wollen doch, dass ich grüble!«, gab Hjelm zurück.
»Die Kommissare halten ja hin und wieder diese sogenannten Sommerreden. Mitte Juli. Vor den Ferien.«
Paul Hjelm konnte sich nicht länger zurückhalten und platzte heraus: »Und dieses Jahr sind Sie an der Reihe. Weil Sie einen wirklich aufregenden Gesetzesvorschlag in der Hand haben. Und der hat mit Umweltdingen zu tun, da Sie ja die EU-Kommissarin für Umwelt sind. Und dieser Entwurf wird so eine Resonanz haben, dass Ihre Rede über politischen Anstand und über unser angeborenes Gerechtigkeitsempfinden auch Gehör finden wird. Endlich!«
»Ich habe eindeutig schon zu viel gesagt.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass sowohl Kerstin als auch ich absolutes Stillschweigen bewahren werden, wenn Sie das wünschen.«
»Davon bin ich ausgegangen. Einige Details müssen noch abgeklärt werden, aber wenn das erledigt ist, ist es nicht mehr nur ein Gesetzesvorschlag.«
»Sondern?«
»Sondern ein Gesetzesentwurf, der auch durchgeboxt werden kann.«
»Und Sie wollen uns nicht verraten, worum es dabei geht?«
Marianne Barrière beugte sich zu ihm und flüsterte: »Wenn Sie bei sich in der Behörde jemals über den Begriff ›Plan G‹ stolpern, dann lassen Sie von sich hören.«
»Und was sollte das sein?«, fragte Paul Hjelm.
»Jetzt genießen Sie Ihren Barsch«, befahl Marianne Barrière und begann zu essen.
Das Barschfilet war ausgezeichnet. Diesen Gang verzehrten sie bei angenehmer gedämpfter Unterhaltung. Als die nun nicht mehr so schön angerichteten Fischteller abgeräumt wurden und ein Nachtisch aus Beeren folgte, den Paul Hjelm nicht weiter identifizieren konnte, rief Marianne Barrière unvermittelt: »Sie sind wirklich ein tolles Paar, Sie
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