Nein! Ich möchte keine Kaffeefahrt!
es ein bisschen wärmer wird. Ich bin eine fürchterliche Frostbeule– ich brauche mir bloß bei ein Grad minus die Hände vors Gesicht zu halten, um niemanden anzuniesen, dann kann ich sie hinterher mitWasserdampf von meiner Nase ablösen. Mein Kreislauf ist in etwa so effektiv wie die Zirkulation eines Binnensees imWinter.
Ich sollte vielleicht stricken, aber nachdem ich für Gene, meinen Enkel, zur Geburt mit vier Nadeln ein Paar winzige Socken gestrickt habe, schaffe ich es in meinem ganzen Leben nicht noch einmal, einenWollfaden um eine Nadel zu wickeln. Zu kompliziert!
Jedenfalls habe ich also eine ganzeWeile nicht mehrTagebuch geschrieben. Man macht das ja nicht nur als Selbsthilfe, sondern auch, weil man von der absonderlichen Hoffnung beseelt ist, dass in hundert Jahren jemand dieseTexte entdeckt und man dann als der neue Mr Pepys gefeiert wird. Obwohl sich die Frage stellt, ob Computerdateien überhaupt bis ins nächste Jahrhundert erhalten bleiben.Vielleicht sollte ich mir einen Federkiel anschaffen und mit der Hand schreiben, anstatt auf meinem Laptop in dieTasten zu hauen. Jack hat mir das Ding zuWeihnachten geschenkt, damit seine arme alte Mama endlich in dem Jahrhundert ankommt, das ich immer das zwanzigste nenne, obwohl es längst das einundzwanzigste ist. Und ich bin wild entschlossen, mit diesem Gerät zurechtzukommen, obwohl dieTasten für Menschen mit winzigen Koboldfingern gemacht zu sein scheinen. Insgeheim bevorzuge ich immer noch den schrulligen alten Computer in meinemArbeitszimmer.
Zurück zumTagebuch. Man kann ihm alles anvertrauen, worüber man mit seinen Freundinnen nicht reden kann, man kann hemmungslos übertreiben oder zu seinen Lieben ganz gemein sein, ohne sie zu verletzen– es ist ein guter Kumpel oder Kamerad, wie wir in meiner Jugend zu sagen pflegten, die mir eine Million Jahre zurückzuliegen scheint, obwohl ich 1957 zehn Jahre alt war. Und einen Kumpel oder Kamerad brauche ich jetzt, da alles nicht mehr– hm, wie soll ich das ausdrücken?– so umwerfend und großartig ist wie in meinem sechzigsten Lebensjahr. Und obwohl ich es immer noch besser finde, nicht mehr jung zu sein, und mich für glücklicher denn je halte, hat sich doch nicht alles ganz so ideal entwickelt, wie ich mir das mit sechzig erhofft hatte.
Warum also bin ich nicht so munter und euphorisch wie früher? Zum einen, weil ich inzwischen fast fünfundsechzig bin– in ein paarWochen, genau genommen–, was spürbar näher bei siebzig ist. Da tritt man unwillkürlich ein bisschen kürzer. (Wenn man älter wird und irgendetwas Größeres wie eine Operation oder auch nur eine ernsthafte Grippe verkraften muss, erreicht man danach nie wieder seineAusgangsposition. Man geht quasi zehn Schritte zurück und nur neun wieder nach vorne.) Und ich habe mich unlängst auch bei einem Selbstgespräch ertappt. Ich wusste gar nicht, was für eine interessante Person ich bin, bevor ich anfing, mit mir selbst zu reden. Dennoch. Irgendwie hat es auch sein Gutes, diese zunehmendeVerschrobenheit. Früher habe ich nie Sport gemacht, aber inzwischen halte ich mein Herz schon deshalb aufTrab, weil ich ständig durchs Haus renne, um meine Brille zu suchen, oder weil ich nicht sicher bin, ob ich das Badewasser abgestellt habe.
Das Hauptproblem istArchie. Etwa vor zwei Jahren fiel mir auf, dass er sich sonderbar zu benehmen begann.Als Erstes vergaß er meinen Namen.Wir lachten noch gemeinsam über seineTütteligkeit, aber dann entdeckte ich auf seinem Schreibtisch ein Blatt Papier mit bekannten Namen. Hardy (sein Hund). James (gemeinsamer Freund). Philippa (seine verstorbene Frau). Harry (sein Schwiegersohn). Mrs Evans (seine Haushälterin). Marie (das bin ich). Sylvie (seineTochter). Gene (mein Enkel). Jack (mein Sohn). David (mein Exmann). Das Ganze machte den Eindruck einer Gedächtnisstütze. Offen gestanden war ich etwas pikiert, dass ich erst so weit unten auftauchte. Und die Handschrift sah so merkwürdig aus. Nicht so schwungvoll wie sonst. Ein bisschen unstet. Oder, um ganz ehrlich zu sein, zittrig. (Man muss imAlter unbedingt eine klare Handschrift behalten.Wenn ich etwas schreibe, hole ich vorher immer tief Luft, damit meine elegante Kursivschrift auch wirklich kraftvoll und entschlossen wirkt. Sie darf auf keinen Fall krakelig aussehen. Damit verrät man sich.)
Als Nächstes war ich zutiefst beunruhigt, alsArchie einen extrem seltenen und teuren Rosenstock für seinen Garten kaufte und sich dann furchtbar aufregte,
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