Nemesis 02 - Geisterstunde
Handgelenke brechen?«
»Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee.« Wieder Stimme Nummer drei. Ich beschloss endgültig, ihren Besitzer nicht nur nicht zu mögen, sondern zu hassen.
Vorsichtig öffnete ich die Augen und war darauf gefasst, mit einer wütenden Schmerzattacke dafür belohnt zu werden, wie ich es von zahllosen Migräne-Anfällen her kannte. Doch der heimtückische Angriff, auf den ich wartete, blieb aus. Mir wurde nicht einmal übel.
Wenigstens nicht übler, als mir sowieso schon war.
Um mich herum waren Gesichter, die mir im ersten Moment nichts sagten, ebenso wenig wie der große, gewölbeartige Raum, in dem ich aufgewacht war; eine Katakombe. Ich war in Frankensteins Labor erwacht, und die Stiche in meinem Gesicht waren die gewesen, mit denen sein Assistent ein paar Leichenteile festgenäht hatte, um die fehlenden Stücke zu ersetzen. Ich erinnerte mich an eine Explosion, die meinen Kopf in Stücke gerissen hatte und –
Nein. Das stimmte nicht. Ein weiterer Teil meiner Erinnerung kehrte zurück. Ich war bei Dr. Frankenstein gestrandet, und das mit meinem Kopf war auch irgendwie passiert, aber es war nicht mein Schädel, der auseinander geflogen war. Mein Kopf war von einer rostigen Metallstange aus dem dreizehnten Jahrhundert ans Armaturenbrett eines fast ebenso alten Geländewagens genagelt worden ...
Eine schlanke Frau mit gestyltem fuchsroten Haar, die direkt vor dem billigen Plastikstuhl stand, auf dem ich hockte, musterte mich mit ausdruckslosem Gesicht, während sie die Flasche mit Kölnischwasser zuschraubte.
Allein der Anblick reichte aus, um den Schmerz in meinem Gesicht neu anzustacheln. Erinnerungen drängten aus meinem Unterbewusstsein hoch, aber ich kämpfte sie nieder. Ich wollte sie nicht.
»Ich weiß, es brennt ein bisschen, aber ich habe nichts anderes zum Desinfizieren«, sagte sie. Das Mitleid in ihrer Stimme hielt sich in ziemlichen Grenzen, fand ich.
Ganz im Gegenteil. Ich schneide gerne.
Verständnislos starrte ich sie an. Der Gedanke, so zusammenhanglos er im ersten Moment auch sein mochte, gab einen weiteren Teil meiner verschütteten Erinnerungen frei. Ellen, fiel mir ein. Sie hieß Ellen, nicht Miriam, und als wäre dieser Name ein Auslöser gewesen, kehrten meine Erinnerungen plötzlich wie ein Strom dunkler, unwillkommener Schatten zurück. Meine Reise nach Crailsfelden, die Ankunft in dem ehemaligen Internat und früheren Kloster, die Bekanntschaft mit den anderen, mit denen ich angeblich um zahllose Ecken herum verwandt sein sollte und die ebenso wie ich wegen einer mysteriösen Erbschaft hergekommen waren.
Miriam. Von Thun, der greise Anwaltsgehilfe, der uns die ersten Einzelheiten über das verrückte Testament Klaus Sängers offenbart hatte, sein Sturz in den Schacht, mein Versuch, zusammen mit Ed in die Stadt zu fahren und Hilfe zu holen, das Fallgatter, das auf den Wagen herabgestürzt war ...
Meine Benommenheit war plötzlich wie weggeblasen.
Die Bilder, die nun durch meinen Kopf wirbelten, waren kaum weniger chaotisch als die, die ihnen Platz gemacht hatten, aber es gab einen Unterschied: Diese Erinnerungen waren echt. Ed war tot, und ich sollte es eigentlich auch sein. Mit einem Ruck richtete ich mich auf dem Stuhl auf, so dass Stefan, der neben mir stand und mich zuvor mit so unerbittlicher Kraft festgehalten hatte, hastig wieder die Hände hob, um zuzugreifen, sollte es sich als nötig erweisen. Immerhin wusste ich jetzt, wem die dritte Stimme gehörte.
»Was...?«
»Du hast verdammtes Glück gehabt«, fiel mir Ellen ins Wort. Sie stellte die Parfümflasche auf einen Stuhl neben sich, auf dem bereits eine ganze Sammlung weiterer höchst phantasievoll improvisierter Folterutensilien verteilt lag: ein aufgeklapptes Näh-Etui, eine blutige, verbogene Nadel, mehrere gleichfalls blutbesudelte Tücher und diverse Utensilien aus einem Erste-Hilfe-Kasten, der offenbar schon eine Antiquität gewesen war, als Carls altersschwacher Jeep, aus dem er vermutlich stammte, gerade vom Band gerollt war. Falls es damals schon Fließbänder gegeben hatte. »Es ist nur eine Platzwunde.
Ich musste sie nähen, aber keine Sorge: Die Narbe wird zwischen den Falten auf deiner Stirn kaum zu sehen sein.
Und je älter du wirst, desto weniger fällt sie auf.«
»Wie fühlst du dich?«, fragte Judith. Während Ellen weiterhin jeden Anflug von Mitgefühl oder gar Sorge vermissen ließ, las ich in Judiths Gesicht fast zu viel davon – in dem Teil ihres Gesichtes, den
Weitere Kostenlose Bücher