Nemesis 02 - Geisterstunde
ich erkennen konnte, hieß das. Allzu viel war es nicht. Wenn das, was ich sah, ebenfalls Ellens Werk war, dann hielten ihre Fähigkeiten als Krankenschwester nicht mit denen als Ärztin mit. Wenigstens hoffte ich, dass sie als Ärztin besser war: Ein halbes Dutzend mehr oder weniger lieblos aufgeklebter Pflaster auf Stirn und Wangen verdeckten die Wunden, die ihr die Krallen der Fledermaus zugefügt hatten, und in ihrem rechten Ohr steckte ein klumpig gewordener rotbrauner Wattebausch. Sie war sehr blass, genau wie Maria, die ein Stück abseits mit im Schoß gefalteten Händen auf einem der Stühle saß und mit fahrigen Blicken nach einem Mauseloch Ausschau zu halten schien, in dem sie sich verkriechen konnte.
Ed fehlte. Aber Ed war ja auch ...
»Ed«, murmelte ich. Meine Zunge war schwer und weigerte sich, mir richtig zu gehorchen. »Was ist mit Ed?
Wo ...?«
»Er liegt da drüben«, erklärte Judith. Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Küchentisches, und ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig genug an die brennende Zündschnur in meinem Schädel, um nicht mit einem Ruck den Kopf zu drehen und ihrer Geste zu folgen. Stattdessen stemmte ich mich vorsichtig in die Höhe. Im ersten Moment wurde mir trotzdem schwindelig; alles drehte sich vor meinen Augen. Meine Beine schienen plötzlich zu schwach zu sein, um das Gewicht meines eigenen Körpers zu tragen. Aber nach wenigen Sekunden ging der Anfall vorbei, und wenigstens hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass mein Kopf gleich explodieren müsse. Wenn das ein Migräne-Anfall gewesen war, dann der seltsamste, an den ich mich erinnern konnte.
»Du solltest dich noch etwas schonen. Beim Marathon-Lauf hättest du im Moment ohnehin keine Chance«, riet Ellen. Wahrscheinlich hatte sie Recht, aber ich ignorierte sie trotzdem. Mühsam wankte ich in Richtung des Tisches, und als ich ihn erreichte, musste ich mich mit beiden Händen auf der Platte des klobigen Möbelstücks abstützen. Die Kopfschmerzen, auf die ich wartete, kamen immer noch nicht, aber mein Herz pochte. Plötzlich hatte ich Angst, Ed anzusehen. Ich hätte ihm liebend gerne höchstpersönlich die Zähne eingeschlagen, aber ich wollte ihn nicht tot sehen.
Das musste ich auch nicht. Ed war nicht tot. Er bot einen bemitleidenswerten Anblick, und wäre er bei Bewusstsein gewesen, hätte er sich in diesem Moment vermutlich sogar gewünscht, tot zu sein, aber er war es nicht. Sein T-Shirt war der Länge nach aufgeschnitten, und ich konnte sehen, dass seine Brust mit kleinen Schnittwunden, Prellungen und Blutergüssen nur so übersät war; sie hatten bereits begonnen, sich in allen Farben des Regenbogens zu verfärben. Sein Kopf war bandagiert wie der einer Mumie, nur über Mund, Nase und Augen waren schmale Schlitze frei geblieben. Trotz der dicken Verbände war der Mull an zahlreichen Stellen blutgetränkt.
Er war bewusstlos, aber er lebte, auch wenn ich nicht begriff, wieso. Bevor ich selbst ohnmächtig geworden war, hatte ich gesehen, wie sich die gut handlangen Spitzen des Fallgatters durch das Wagendach und direkt in seinen Hinterkopf und Nacken gebohrt hatten! Er konnte gar nicht mehr am Leben sein. Aber er war es.
»Bei ihm kann man schon nicht mehr von Glück sprechen«, kommentierte Ellen, die neben mich getreten war und meine Gedanken zu lesen schien. »Das grenzt schon an göttliche Fügung.«
»Göttliche Fügung?«
Ellen zuckte beiläufig mit den Schultern. »Nenn es, wie du willst. Du weißt doch: Kleine Kinder, Betrunkene und Schwachköpfe haben anscheinend besonders aufmerksame Schutzengel.«
Ich funkelte sie ärgerlich an. Ich konnte Ed nicht ausstehen, und mein Mitleid hätte sich vermutlich in Grenzen gehalten, selbst wenn er gestorben wäre. Dennoch machte mich die Art wütend, wie sie über ihn sprach, aber was hatte ich anderes von ihr erwartet?
»Nur eine Handbreit weiter vorn, und er wäre Schaschlik«, fuhr sie ungerührt fort. »So hat er nur eine schwere Gehirnerschütterung – nicht, dass ich glaube, da wäre viel zu erschüttern gewesen — und am Hinterkopf eine Schnittwunde, die bis auf den Knochen reicht. Und jede Menge blauer Flecken und Prellungen. Aber ich glaube, es ist nichts Ernstes.« Diesmal war ich sicher, einen fast bedauernden Unterton in ihrer Stimme zu hören.
»Wird er durchkommen?«, fragte ich. Meine Stimme klang belegt, aber ich redete mir ein, dass es an meinem eigenen Zustand lag, nicht an meinem überwältigenden Mitleid mit Ed.
Ellen hob
Weitere Kostenlose Bücher