Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
mächtige, mehr als mannshohe Lautsprecher an die Wand des Rundsaales montiert, allesamt zur Mitte der Plattform hin ausgerichtet.
Mein Verstand brüllte mir regelrecht zu, einen diskreten Abstand zu der seltsamen Einrichtung einzuhalten, keinen Schritt weiterzugehen und stattdessen herumzuwirbeln und endlich diesen aufgeschwemmten Drecksack hinter mir zu überwältigen, ihm die Waffe zu entwenden und mit Judith die Flucht zu ergreifen. Doch mein Wille hatte keinen Zugang zu meinem Körper. Wie von fremder, übermächtiger Hand gesteuert, lösten sich meine Finger aus denen Judiths, und meine Beine trugen mich zielstrebig an Ellen vorbei auf den zweiten Stuhl links der Rampe zu. Während meine Vernunft kollabierte und sich hechelnd in einem unzugänglichen Teil meines Bewusstseins verkroch, ließ ich mich auf der Sitzfläche nieder und bemerkte erst jetzt, wie disproportional das alte Möbelstück war – ganz so, als sei es nicht für einen Erwachsenen gefertigt worden, sondern für ein Kind, bestenfalls für einen Teenager. Die Sitzfläche war einen Deut zu niedrig, um bequem zu sein; um sie mit dem Gesäß zu erreichen, musste ich die Knie anwinkeln. Meine Hände tasteten über die etwas zu dicht an meinem Körper anliegenden Lehnen.
Eine raue Stelle im brüchigen Holz ließ mich stutzen. Ich kniff die Augen zu einem konzentrierten Spalt zusammen und versuchte im nun erregt hin und her huschenden Lichtstrahl zu erkennen, was meine Fingerspitzen ertastet hatten. Es dauerte eine kleine Weile, aber schließlich erkannte ich ein undeutliches, krakeliges F, das aussah, als hätte jemand es mit dem Fingernagel der rechten Hand in die hölzerne Lehne geritzt. F wie Frank. Frank Gorresberg.
Auf einmal begannen die Fingerkuppen meines Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand zu brennen, als sei die Haut an ihnen wund gescheuert und die Nägel gebrochen.
Trotz des unangenehmen, leichten Schmerzes begann ich, den Buchstaben mit den Fingernägeln nachzufahren, ihn noch tiefer und deutlicher in das mittlerweile weiche, morsche Holz hineinzuschaben. Wieder überkam mich das quälende Gefühl, dass es nur ein einziger winziger Mosaikstein war, der mir fehlte, um ein längst vergangenes Bild des Schreckens in meinem Unterbewusstsein zu vervollständigen und mir zugänglich zu machen. Der pelzige Belag auf meiner Zunge und in meinem Rachen schien auf einmal gänzlich auszutrocknen und an meinen Schleimhäuten wie mit einem Drahtschwamm zu scheuern, und meine Kehle fühlte sich wieder an, als hätte jemand seine unsichtbaren Hände fest um meinen Hals geschlossen. Ich konnte noch niemals hier gewesen sein, das war vollkommen unmöglich. Dennoch war ich mir plötzlich absolut sicher, dass ich derjenige gewesen war, der diesen Buchstaben in das Holz geritzt hatte. Für einen winzigen Augenblick glaubte ich meine Hand schrumpfen zu sehen, bis sie klein, schmal und feingliedrig war wie die eines Kindes. Voller Schrecken beobachtete ich, wie sie sich, blutig geschürft, blass und so verkrampft, dass sich die kindlichen, dünnen Venen wulstig auf dem Handrücken abzeichneten, um die Armlehne schloss. War es möglich, dass ich schon einmal hier gewesen war? Wenn nicht in diesem Leben, dann vielleicht in einem anderen, in dem mein Vorname rein zufällig auch mit einem F begonnen hatte, oder war ich möglicherweise –
»Seht euch das mal an!« Ellens Stimme riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Verflucht! Ich war so nah dran gewesen! Nur noch wenige Augenblicke, und ich hätte den letzten Puzzlestein eingesetzt, der mir fehlte, das Bild zu vervollständigen, das die Antwort auf alle Fragen bot.
Nun aber zerprang es in Millionen kleiner, in die verschiedensten Richtungen hinweg fliegender Teilchen zu einem unüberschaubaren grauschwarzen Durcheinander, welches zu sortieren ein Ding der Unmöglichkeit war.
Wenigstens gehorchten meine Muskeln und Gelenke mir wieder, sodass ich mich ruckartig und von plötzlichem Ekel vor dem klobigen Stuhl und irgendwie auch vor mir selbst erheben und an die Seite der Ärztin treten konnte.
Sie stand mitten auf der seltsamen stählernen Rampe und hatte sich so weit vornüber gebeugt, dass ich mich bereithielt, sie im Zweifelsfall zu packen und zurückzureißen, falls sie das Gleichgewicht zu verlieren und zu fallen drohte. Carl trat an das rostige Geländer, das die runde Plattform zu unserer Seite hin einfasste, und leuchtete mit dem mittlerweile flackernden, blassen Strahl der Taschenlampe in die
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