Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
verzerrte den Klang seiner Stimme in meinen Ohren.
Es verging weniger als eine Sekunde, die der Wirt benötigte, um tatsächlich abzudrücken, aber ich nahm sie wahr, wie in Zeitlupe betrachtet. Dieses fette Dreckschwein wollte auf meine Judith schießen!
Der Schmerz war binnen kürzester Zeit auf einen Pegel angestiegen, an dem er mir einmal mehr das Bewusstsein zu rauben drohte, und trotzdem schaffte ich es irgendwie, mich mit einem einzigen, mächtigen Satz auf den übergewichtigen Althippie zu werfen und ihn mit meinem Körpergewicht zu Boden zu reißen; die Angst um Judith verlieh mir schier unglaubliche Kräfte. Ich hatte mir geschworen, mein Leben im Zweifelsfall für sie zu opfern, einen Eid vor mir selbst darauf abgelegt, dass ich ihr ein Held sein würde, wenn irgendjemand ihr etwas zuleide tun wollte, und wenn es das letzte Mal war, dass ich Gelegenheit dazu bekam. Nun war ich bereit, diesen Schwur einzulösen.
Ich schleuderte den Wirt durch die Wucht meines Aufpralls schräg zur Seite weg und landete schmerzhaft auf dem harten Boden neben ihm. Ein Schuss, der mir das Gefühl gab, dass mein Kopf augenblicklich in Abermillionen winziger Hautfetzen, Knochensplitter und Gewebeteilchen zersprang – so wie in meiner Imagination das Haupt des Rechtsanwaltes am vergangenen Tag in der »Taube« explodiert war –, löste sich aus der Achtunddreißiger und zeitgleich erklang ein schier unerträgliches, hässliches Rauschen, offenbar aus allen im Turm angebrachten Lautsprechern gleichzeitig. Der gewaltige Basslautsprecher acht Meter weit unter meinen Füßen gab ein knirschendes, kratzendes Geräusch von sich, das mir nun zusätzlich zu dem Übelkeit erregendes Hämmern unter meiner Schädeldecke das widerliche Gefühl vermittelte, dass mir unter nicht vollständig ausreichender örtlicher Betäubung das Muskelfleisch von den Knochen geschält wurde. Dann ertönte leiernd, wie von einer uralten Schellackplatte abgespielt, Musik aus den unzähligen großen und kleinen Lautsprechern.
»... unsere beiden Schatten sah'n wie einer aus...«
Ich wälzte mich auf den Rücken und robbte keuchend ein Stück weit von der nächstgelegenen Box ins Zentrum des Raumes, doch die Lautstärke und Intensität der Musik änderten sich keinen Deut, ganz egal, wohin auf diesem Plateau ich auch zu flüchten versuchen würde. Gehetzt wie bei einem Beutetier irrte mein Blick wild suchend durch den Raum.
»... dass wir so lieb uns hatten, das sah man gleich daraus ...«
Schwer atmend presste ich die Hände gegen die Schläfen, als könnte und müsste ich meinen Schädel, der sich anfühlte, als würde er dem schrecklichen Druck nicht mehr lange standhalten, tatsächlich mit aller Kraft zusammenhalten – dabei war die Musik noch nicht einmal sonderlich laut, beachtete man den Umstand, dass ich daran gewöhnt war, auf Rockkonzerten in der ersten Reihe zu stehen. Es war nicht die Musik selbst, die verantwortlich war für den grauenhaften Schmerz hinter meiner Stirn, sondern etwas, was sie mit sich brachte. Irgendetwas verbarg sich in ihr, zwischen den leiernd durch den Raum schallenden Zeilen und Akkorden, etwas, das den sadistischen Alien in meinem Kopf wie ein Anabolikum zu Höchstleistungen antrieb.
Ich musste hier raus! Mit mehr entschiedenem Willen als tatsächlicher Kraft schaffte ich es, mich auf die Füße aufzurichten, aber nur, um sofort von einer neuerlichen, noch heftigeren Schmerzwelle erfasst, sofort wieder in die Knie zu brechen. Grelle, bunte Pünktchen blitzten vor meinen Augen auf, und heiße Tränen rannen wie Sturzbäche über meine plötzlich eiskalten Wangen. Nicht jetzt, flehte ich ein verzweifeltes, stummes Gebet. Ich durfte nicht schon wieder ohnmächtig werden. Nicht hier, verdammt noch mal!
Ich wusste, dass ich vergebens betete. Ich nahm gerade noch wahr, dass auch Ellen und Judith sich in rasender Furcht und unter schrecklichen Schmerzen die Hände gegen die Stirn pressten. Lediglich Carl, der sich schnell wieder aufgerichtet hatte, schien unberührt zu bleiben von der leiernden Schallplatte und dem unerträglichen Rauschen der Lautsprecher. Einen Augenblick lang maß er die beiden Frauen und mich mit einem teils erschrockenen, teils zweifelnden Blick, dann nahm sein Gesicht den entsetzten Ausdruck des Erkennens an und er wandte sich schreiend zu einer kopflosen Flucht.
Ich fiel vornüber und hatte den Kampf um mein Bewusstsein verloren, noch bevor ich mit dem Gesicht auf dem harten Steinboden
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