Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
keineswegs zum Ausgang zu führen, weil er die ganze Zeit über nur auf seinen gottverdammten Schatz aus war«, unterstützte mich Judith schwach, aber auch ihrer Stimme ließ sich unschwer entnehmen, dass sie nicht ernsthaft darauf hoffte, wir könnten Recht haben.
»Wenn wir beobachtet werden, und es ist nun mal Sinn eines jeden Experiments, die Dinge zu beobachten«, entgegnete Ellen kühl, »dann bleibt es sich vollkommen gleich, wohin wir zu fliehen versuchen. Wer auch immer hinter dieser ganzen Sache steckt, hat ein Auge auf uns und wird dafür Sorge tragen, dass wir seine düsteren Geheimnisse, denen er in diesem Keller frönt, nicht in die große weite Welt hinaustragen werden.«
»Hör auf mit deiner verdammten Schwarzmalerei!«
Judith machte einen Schritt auf die junge Ärztin zu, als wolle sie sie an den Schultern packen und durchschütteln, wenn nicht sogar schlagen, aber ich packte sie mit sanfter Gewalt am Oberarm und hielt sie zurück. »Ich kann es nicht mehr hören, verstehst du? Unsere Lage ist auch ohne deine krankhaften Fantasien schon dramatisch genug. Und aussichtslos oder nicht: Weiter nach einem Ausgang zu suchen ist auf jeden Fall besser als tatenlos hier im Turm herumzustehen und zu warten, bis derjenige, der schon die anderen drei umgebracht hat, hier auftaucht und auch uns niedermetzelt. Also kommt.« Sie machte einen entschiedenen Schritt auf die stählerne Rampe zu, die zurück auf den kleinen Flur und zur Treppe führte.
Ellen konnte sich einen letzten herablassenden Blick, mit dem sie Judith von Kopf bis Fuß maß, nicht verkneifen, verzichtete aber darauf, ihr zu widersprechen und den Streit, der in ein Handgemenge auszuarten drohte, noch weiter anzufachen. Sie folgte Judith kopfschüttelnd und mit einem Seufzen, mit dem sie ein wenig einer Mutter ähnelte, die gerade die vergeblichen Versuche eingestellt hatte, ihrem Erstklässler die Existenz des Weihnachtsmannes abzusprechen, hätte ich mir irgendeine mütterliche Geste an der rothaarigen Ärztin vorstellen können. Aber Frauen wie Ellen bekamen keine Kinder, Paarungsexperimente hin oder her, und daher machte ihr genervtes Seufzen sie mir nur noch ein kleines bisschen unsympathischer, als sie es ohnehin schon war. Judith hatte Recht gehabt, als sie behauptet hatte, dass man einen schlechten Charakter auch nicht hinter einem teuren Designerkostüm verbergen konnte, und allen – nur natürlichen – männlichen Instinkten zum Trotz konnte ich an ihren schlanken, langen Beinen mittlerweile kaum noch etwas Erotisches entdecken. Und das, obgleich ich Männer, die von sich behaupteten, nicht auf das Äußere einer Frau zu achten, weil die inneren Werte ja so viel wichtiger wären, insgeheim immer für Dummschwätzer gehalten hatte; schließlich ging ich im Endeffekt doch mit dem Körper der entsprechenden Kandidatin ins Bett und nicht mit ihrem hochattraktiven Charakter.
Ich schloss mich den Frauen an und folgte ihnen nur widerwillig zurück in den Keller hinab, obwohl es mein eigener Vorschlag gewesen war, dorthin zu gehen. Dass das Licht sowohl im Turm als auch, wie ich schnell feststellte, im Treppenhaus funktionierte, ließ mich befürchten, dass auch das makabere Leichenschauhaus wenn nicht taghell erleuchtet, so doch zumindest von unheimlichem Notlicht erfüllt auf uns warten würde. Die Vorstellung, noch mehr grauenhafte Einzelheiten in dem kreisrunden Saal unter dem Turm mit dem Blick erfassen zu müssen, behagte mir ganz und gar nicht. In zusammenhangslosen Fetzen tanzten Erinnerungen aus meinem jüngsten Albtraum vor meinem inneren Auge herum, während ich den beiden Frauen mit zitternden Knien folgte, und meine Befürchtungen wurden erfüllt: Tatsächlich lag die Forschungssammlung in einwandfreier Beleuchtung vor uns, als wir die geschwungene Treppe hinter uns zurückgelegt hatten. Ich senkte den Kopf und bemühte mich, den Blick keine Sekunde von meinen Fußspitzen abzuwenden, während ich die Keramikbecken und Regale passierte. Auch Judith zog es vor, den Weg durch den Saal fast rennend und mit auf ihre Schuhe gerichtetem Blick zurückzulegen.
Lediglich Ellen versuchte den Kopf in brennender, vermeintlich wissenschaftlicher Neugier scheinbar überall gleichzeitig hinzuwenden, wie ich mit deutlicher Verachtung, fast schon mit Ekel, aus den Augenwinkeln feststellte. Erst als wir den vorgelagerten Wachraum erreicht hatten und ich die stählerne Tür so hektisch hinter mir zugeschlagen hatte, dass sie einen Moment lang
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