Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
ihren Augen lagen tiefe, dunkle Ringe, und ihre nun tränennassen Augen waren erfüllt von maßlosem Schrecken, Fassungslosigkeit und panischer Angst. Judith, meine kleine, süße Judith, mein schutzbedürftiges, herzensgutes Pummelchen, das ich innerhalb kürzester Zeit zu lieben begonnen hatte, wie ich nie einen Menschen zuvor geliebt hatte, so zu sehen, erschütterte mich zutiefst und verscheuchte das Prickeln in meinen Leisten binnen weniger Sekundenbruchteile. Ich schlang meine Arme um ihren Oberkörper, drückte sie fest an mich und begann, ihren nackten, eiskalten Rücken zu streicheln. Ich unterdrückte das Bedürfnis, sie in meinen Armen zu wiegen wie ein kleines Kind. Nie hätte ich geglaubt, dass es irgendetwas geben könnte, das sie, die in dieser Nacht bei allen unsagbaren Schrecken, die über uns hergefallen waren, immer ein bewundernswertes Maß an Fassung behalten hatte, derart aus der Bahn werfen konnte, dass sie nun ungeachtet Ellens Anwesenheit hemmungslos an meiner Brust weinte. Aber sie tat es. Ein heftiges Beben durchfuhr ihren zitternden Körper, und ich drückte sie so fest an mich, wie es nur eben ging, ohne ihr dabei wehzutun. Auch ich kämpfte gegen die Tränen des Mitgefühls, aber auch der Scham an, die ich wider besseren Wissens, dass nämlich mein Zusammenbruch nichts, aber auch gar nichts mit Schwäche zu tun gehabt hatte, nicht gänzlich von mir abstreifen konnte.
Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Ellen sich endlich aus ihrer Lethargie löste, wenn auch die Bewegungen, mit denen sie die Dutzenden von Elektroden von sich streifte, fast schlafwandlerisch wirkten. Judith schob mich ein kleines Stück von sich weg, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und bemühte sich sichtlich darum, ihre Fassung wiederzugewinnen. Gleichzeitig deutete sie mit einem auffordernden Nicken in Ellens Richtung, und ich stand auf, um der Ärztin zu helfen, doch Ellen schüttelte schwach, aber mit entschiedenem Blick den Kopf. Langsam erhob sie sich aus ihrem zu niedrigen Stuhl, begann mit noch immer müde wirkenden Bewegungen und unsicheren Schritten ihre auf dem Boden verstreuten Kleider aufzulesen. Sie reichte auch Judith das geblümte Kleid, das sie für sie, die nicht aufgestanden, sondern mit beschämt vor die Brust gehaltenen Händen sitzen geblieben war, aufhob. Beide zogen sich wortlos an, und auch ich bückte mich nach meinem auf dem Boden liegenden Oberteil und streifte es mir über. Endlich erhob sich auch Judith von ihrem Platz, und eine kleine Weile standen wir alle einfach nur da und blickten in einer Mischung aus Unsicherheit, Angst, Unbehagen, Scham, Schmerz und Hilflosigkeit aneinander vorbei oder durcheinander hindurch. Schließlich war es Ellen, die mit geistesabwesendem Blick das Wort ergriff.
»Wir sind Ratten in einem gewaltigen Labor«, flüsterte sie tonlos. »Die Burg ist unser Labyrinth.« Sie blickte an den dunklen Steinquadern, aus denen sich die Wände zusammensetzten, hinauf und betrachtete mit ausdrucksloser Miene das Kabelgewirr unter der Decke, das mir erst jetzt auffiel. »Irgendwo sitzt unser Versuchsleiter und beobachtet uns. Er hat jetzt seine Messdaten. Das Experiment ist bald beendet.«
Erst jetzt realisierte ich, dass es nicht mehr dunkel in der runden Turmkammer war, obwohl Carl mitsamt seinem Strahler, der uns den Weg hierher geleuchtet hatte, verschwunden war. An den Wänden ringsum leuchteten schwach glimmende Notlichter, und aus der Tiefe unter dem Turm drang ein irgendwie beruhigendes, stotterndes Brummen zu uns hindurch, das ich als das Geräusch der schweren Dieselgeneratoren aus dem Keller identifizierte.
Ob der Wirt sie eingeschaltet hatte? Und wenn ja – wo war er jetzt? War er es gewesen, der Judith, Ellen und mich auf die niedrigen Holzstühle gesetzt und an die unheimlichen EEG-Geräte angeschlossen hatte? War es möglich, dass sein Schatzfieber und seine Unwissenheit nichts als Lug und Trug gewesen waren und dass er die ganze Zeit über gewusst hatte, wohin er uns führte und was er mit uns anstellen wollte? Oder war das alles echt gewesen, doch sein krankes Hirn hatte es sich nicht verkneifen können, am lebenden Objekt auszuprobieren, wozu diese gewaltige, durch und durch unheimliche Anlage hier diente? Hatte er die Auswirkungen seiner primitiven Idee von der abgefahrenen Dröhnung, die ihm vorhin gekommen war, an uns beobachten wollen, ehe er sich selbst, einen Joint rauchend, zu uns gesellte?
Schwachsinn. Nicht einmal der stupide
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