Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
Verstörend sind die Gewaltausbrüche der Patientin, die völlig vom Verhalten der übrigen Patienten abweichen. Professor Sänger hat empfohlen, den Versuch abzubrechen.
    Gez. von Bredo.
    Und weiterhin:
    Burg Crailsfelden, den 22. 09. 1958
    Patientin Susanne Bergmann
    Präparat XXXVII /22.09.1958
    Die Obduktion ergab wie erwartet eine ausgeprägte Tumorbildung im Bereich des – frontalis. Abweichend von anderen Fällen konnte neben dem Primärtumor eine Metastasenbildung in angrenzenden Hirnbereichen festgestellt werden. Möglicherweise liegt hierin die Ursache für das aggressive Verhalten der Patientin in den letzten Monaten begründet.
    Gez. von Bredo
    »Das ... das kann überhaupt nicht sein«, flüsterte Ellen fassungslos, während sie die Zeilen auf dem Flachbildschirm wieder und wieder las. »Ich habe sie nicht gekannt, weil sie so jung verstorben sind, aber ... aber ich weiß, wo sie begraben liegen!« Ihre Stimme nahm einen fast verzweifelten Klang an. Ich konnte mit ihr mitfühlen, und das viel besser, als mir hätte lieb sein können. Ellen klickte das kleine Fenster mit einem fast angeekelten Druck auf die Maustaste weg und fuhr mit dem Zeiger auf den Namen ihrer Mutter, der sich ebenfalls in der Liste befand, verzichtete aber darauf, das Fenster mit wahrscheinlich ähnlichen schrecklichen Details über ihren Gesundheitszustand und ihre Obduktion zu öffnen, das wohl erschienen wäre, hätte sie ihren Namen angeklickt. »Und meine Mutter ist an Brustkrebs verstorben. Mein Vater hat Selbstmord begangen, als ich noch klein war, weil er über ihren Tod nicht hinweggekommen ist. Angeblich.« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Ich ... verdammt, was soll ich glauben?«, fragte sie schließlich und sah mich dabei direkt an, als ob ausgerechnet ich ihr die Antwort auf diese Frage geben könnte.
    Ich erkannte einen feuchten Schimmer in ihren Augen, der mir verriet, dass sie mit den Tränen kämpfte. Ich betete, dass sie diesen Kampf gewann. Ich hatte sie schon einmal weinen sehen, und ich konnte mich nur zu gut daran erinnern, wie weh es mir getan hatte, so wenig ich sie auch mochte. Ihre Tränen waren selten, aber sie waren ehrlich. Judith war mein Ruhepol, der auch jetzt von der Verzweiflung, die Ellen und mich zu übermannen drohte, verschont blieb. Sie verhielt sich zurückhaltend und distanziert zu den schockierenden Informationen, die auf dem spiegelfreien Monitor aufflackerten, als könnte sie die Wahrscheinlichkeit, auch die Namen ihrer nächsten Verwandten in dieser Datei zu finden, allein dadurch auf ein irrelevantes Maß senken, indem sie das alles hier einfach nicht an sich herankommen ließ. Sie weigerte sich stur, auch nur den Ansatz der Vorstellung, dass sie wie Ellen und ich zeit ihres Lebens belogen worden war, zuzulassen.
    So sehr die Ärztin mir auch als Persönlichkeit zuwider war, war sie diejenige, die eine Kraft und die Stärke verströmte, auf die wir alle so dringend angewiesen waren; sie war diejenige, die mich immer wieder dazu verdonnerte, meinen Mann zu stehen und nicht als jammerndes Häufchen Elend in mich zusammenzusacken, wenn es der Beschützerinstinkt, den Judiths Gegenwart in mir wachrief, gerade einmal nicht mehr schaffte. Sie war diejenige, vor der ich am wenigsten bereit war, mir irgendeine Blöße zu geben, weil sie so unglaublich stark und selbstsicher zu wirken versuchte. Der Spott, der so oft in ihren Augen aufblitzte, verärgerte und beschämte mich, sodass ich immerfort in eine Defensive gedrängt wurde, die mich daran hinderte, mich zu sehr auf mein eigenes Leid einzulassen.
    Ihre Tränen würden mich mitreißen und zusammenbrechen lassen. Ich wollte nicht, dass sie weinte.
    »Nichts«, antwortete ich leise und schüttelte hilflos den Kopf. »Ich kann es auch nicht mehr glauben.«
    Ellen biss sich auf die Unterlippe und maß mich mit einem fragenden Blick.
    »Ich war vierzehn, als meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind«, erklärte ich und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Monitor. »Das hat man mir damals erzählt. Und nun finde ich ihre Namen in dieser Kartei des Schreckens, genau wie du. Ich habe meine ganze Jugend in der Obhut eines Großonkels verbracht, den ich so gut wie nie zu Gesicht bekommen habe, weil er es vorgezogen hat, mich von einem Internat zum nächsten weiterzureichen, weißt du. Und die Gräber meiner Eltern
    ...« Ich schluckte. »Sie befinden sich auf demselben Friedhof wie die meiner Großeltern. Gleich neben den ihren

Weitere Kostenlose Bücher