Nemti
Skulptur, deren grobe Konturen aus dem Holz herausgearbeitet waren.
Er schob einen Plastikvorhang zur Seite und betrat den hinteren Teil des Raums. Vorsichtig stellte er den Kühlbehälter, den er seit zwei Stunden wie einen Augapfel hütete, auf einen kleinen Tisch, dessen Platte der Meister aus einem Tuffsteinblock gemeißelt hatte. Er enthielt das Kostbarste, was ein Mensch zu geben in der Lage war. Neferkarê hatte es ihm genommen.
Er blickte an sich hinab. Schnell streifte er die verschmutzte Kleidung mitsamt Unterwäsche ab und warf alles in einen Müllbehälter. Die Sachen würde er später entsorgen, besser noch verbrennen.
Unbändiger Durst quälte ihn. Seine Zunge klebte am Gaumen und fühlte sich an wie die trockene Oberfläche von Schleifpapier mit sehr feiner Körnung. Aus einem Getränkekasten unter dem Tisch holte er eine Mineralwasserflasche hervor. Es zischte, als er sie öffnete.
Um den heiligen Bezirk betreten zu dürfen, musste er sich gründlich reinigen. Er schaltete einen Ventilator ein und stellte sich unter die Dusche. Die niederprasselnden Wasserstrahlen schenkten ihm ein inneres Glücksgefühl. Er genoss es, den Dreck abspülen zu können.
Mit dem Schmutz, den das Wasser von seinem Körper wusch, verflüchtigte sich die Anspannung, die ihn den ganzen Tag über gestresst hatte. Den ersten Teil seiner Mission hatte er erfolgreich abgeschlossen. Der Meister konnte stolz auf ihn sein. Nicht einen Augenblick hatte er daran gezweifelt, das Richtige getan zu haben.
Das lauwarme Wasser tat seinen beanspruchten Muskeln gut, die anschließende kalte Dusche belebte ihn. Er tastete in Höhe des Herzens über seine Brust. Dort befand sich eine Tätowierung, die Hieroglyphe seines Namens, zwei ausgestreckte und mit einem Querbalken verbundene Arme, dazwischen ein Oval mit einem aufsitzenden Kreuz. Den krönenden Abschluss bildete die Sonnenscheibe, das Symbol des Sonnengottes Re.
Er öffnete einen Spind. Darin hing eine speziell für ihn angefertigte blütenweiße Kutte aus feinem Leinen, deren Vorderteil mit verschiedenen Symbolen und Zeichen versehen war. Er kannte ihre Bedeutung.
Mit erhabenem Gefühl zog er die Kutte über und fühlte sich von einem Augenblick auf den anderen wie ein neuer Mensch. Als er die weiße Kordel um die Taille band und in die braunen Sandalen schlüpfte, war er ein anderer. Er war Neferkarê.
Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass er vor den Meister treten konnte. Behutsam nahm er die Kühlbox und hängte sich den Tragegurt über die Schulter. Würdevoll schritt er auf die zweite Tür des Raums zu.
Wenige Schritte , und er betrat eine gänzlich andere Welt. Vor ihm lag ein schwach ausgeleuchteter Korridor, dem er nach rechts folgen musste. Es roch muffig und nach Pilzen, wie alte Kellerräume eben riechen. Er wusste, dass er fünf symbolische Tore durchschreiten würde, um zum Allerheiligsten zu gelangen. Weich fallende, mit Bildzeichen bemalte Seidenvorhänge, stellten die Tore dar. Er hatte das Tempelhaus betreten.
An der Wand links von ihm, wo der Korridor vor Zeiten zugemauert worden war, loderten in Halterungen zwei Fackeln, die bizarre Lichtspiele erzeugten und den Gang schummrig beleuchteten. Es gab zwar elektrisches Licht, dieses wurde aber während der Zeremonien vom Meister nicht geduldet. Die Bewegungen der sacht wehenden Vorhänge zauberten sich ständig ändernde Schatten an die teilweise mit Jagdszenen bemalten Wände.
Neferkarê griff entschlossen nach einer Fackel und zog sie aus der Halterung. Er schob den ersten Vorhang beiseite und ging langsam den schmalen Gang entlang. Hier waren die Wände zwischen den Stoffbahnen so bemalt, dass er glaubte, durch eine Säulenhalle zu wandeln.
Vor dem letzten Seidenbehang stellte er den Kühlbehälter auf einem Bord ab, die Fackel steckte er in eine Wandhalterung. Das Feuer züngelte und flackerte. Schwarzer Rauch stieg auf. An der rechten Seitenwand befand sich eine mit Wasser gefüllte Schale, die einem Weihwasserbecken ähnelte. Er wusch die Hände und trocknete sie mit einem dreieckigen, gestreiften Tuch ab, dem Nemes -Tuch. Mit dieser letzten symbolischen Waschung hatte er den Reinigungsritus vollzogen.
Neferkarê nahm die Fackel und hielt sie hoch. Ihr Licht fiel auf den Vorhang, über dem auf einer Schabracke eine Barke dargestellt war. Der Meister musste sie aufgehängt haben. Hinter der Stoffbahn befand sich der heilige Raum. Nur noch wenige Augenblicke und er würde ihn betreten. Sein
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