Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
spät.
Der Streber mit der billigen Sonnenbrille war mir zuvorgekommen. Er hatte seinen Arm in die Höhe gestreckt und mit den Fingern geschnippt.
Er heiße Marlon, teilte er uns gnädig mit. Die erste Silbe zog er unendlich in die Länge. Ich schaute besorgt zu ihm rüber. Wenigstens meinen Vornamen wollte ich für mich allein haben – aber es stimmten zum Glück nur die ersten drei Buchstaben überein. Seine Stimme war ruhig und etwas schleppend, als wollte er mit jedem Ton ausdrücken, wie unglaublich lässig er war und wie furchtbar ihn unsere Gesellschaft langweilte. Er war seit seinem siebten Lebensjahr blind, mehr erfuhren wir nicht. Eine degenerative Netzhauterkrankung, dachte ich sofort, schlechte Gene, man kann da nicht wählerisch genug sein. Seine Familie besaß zwei Hunde, so groß und so groß – er hielt die Hände ganz schön weit überm Boden. Ich zuckte zusammen. Für einen Moment rutschten die abgeschabten Dielen des Meditationsraums unter meinen Füßen weg.
»Blindenhunde?« fragte der Guru mit diesem Ich-höre-euch-aktiv-zu-Gesicht.
Marlon machte eine Bewegung mit dem Kinn, die ganz entfernt mit Kopfschütteln zu tun hatte.
Er sei sehr geruchsempfindlich, sagte er und setzte eine bedeutungsvolle Pause. Seine Nase sei unglaublich fein, er könne riechen, was jeder Einzelne hier gestern zum Frühstück gegessen habe. Er bitte, darauf Rücksicht zu nehmen und verstärkt auf die Hygiene zu achten. Und genau aus diesem Grund werde er sich jetzt woanders hinsetzen.
Das teigige Wesen neben ihm atmete geräuschvoll aus und lief rot an. Ich hätte Mitleid mit ihm gehabt, wenn ich mich nicht selbst so vor ihm geekelt hätte.
Alle sahen schweigend zu, wie Marlon sich erhob, mit Leichtigkeit seinen Stuhl nahm und ihn an Jannes Seite trug. Dass hier schon die nervöse Tunte saß, schien ihn nicht zu stören. Er konnte sie ja angeblich nicht sehen. Sie faltete sich zusammen und rutschte mit ihrem Stuhl unter Marlon hindurch und in den Kreis hinein. Marlon stellte seinen Stuhl auf den frei gewordenen Platz, setzte sich hin, das Gesicht zu Janne gewandt, und atmete tief ein. Seine Nasenflügel bebten.
Janne hob die Hand. Ich dachte, dass sie ihm jetzt eine knallen würde. Ich hätte es jedenfalls gut gefunden. Stattdessen fuchtelte sie mit ihren langen, zarten Fingern vor Marlons Sonnenbrille herum.
»Und du siehst wirklich gar nichts?«
Er fing ihre Hand in der Luft. »Mach keinen Wind«, sagte er und legte sie an seine Wange.
Ich beschloss, doch nicht mehr hierherzukommen. Obwohl ich zum ersten Mal sah, wie Janne lächelte.
Irgendwann schlug der Guru einen Gong. Wir starrten ihn an, unschlüssig, was er uns damit sagen wollte.
»Wir sind fertig für heute«, sagte er. In seinen verkrampften Mundwinkeln verbarg sich aufrichtige Erleichterung.
Bis auf Janne und den Blinden standen alle wie in Zeitlupe auf, als wären sie unsicher, ob sie jetzt wirklich gehen durften. Dann eilten sie auf den Ausgang zu. Ich ließ den Typen mit der Beinprothese vor, ich hatte Angst, ihn umzurennen. Er war erstaunlich flott, obwohl die Prothese kürzer zu sein schien als sein richtiges Bein. Vielleicht war er einer von denen, die für die Paralympics trainierten. Er hieß Richard, aber es gab für mich nicht den geringsten Grund, mir seinen Namen zu merken.
In der Tür stieß ich mit dem Teigigen zusammen. Er fühlte sich wie eine Qualle an. Es hätte mich durchaus interessiert, welche Behinderung er hatte. Das war nicht zur Sprache gekommen. Eigentlich war, von unseren Vornamen abgesehen, gar nichts zur Sprache gekommen, weil die nervöse Tunte den Rest der Stunde geweint und gezittert hatte. Der Guru hatte versucht, sie zu trösten. Schließlich hatte sie sich schluchzend in die Ecke gesetzt.
»Ich bin ein Psycho, achtet nicht auf mich«, hatte sie gesagt. Wir anderen hatten schweigend zugeguckt, wie der Guru mit einem Glas Leitungswasser, Rescue-Tropfen und einer Packung Taschentücher um sie herum tanzte. Daraufhin hatte ich in seinem Gesicht erstmals so etwas wie Verunsicherung entdeckt. Das hast du jetzt davon, hatte ich schadenfroh gedacht. Hättest doch lieber eine Yogalehrerausbildung gemacht oder irgendwas mit schamanischen Reisen.
Der Teigige hatte ein intaktes Gesicht, Arme und Beine und konnte sehen, hören und sprechen. Sein Name war Friedrich.
Ich wich zurück, um ihn vorzulassen, damit er endlich heimging und ich ihn nicht mehr sehen musste. Aber er tat das Gleiche und lächelte mich von unten
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